Bemerkungen zu Theoda

Bemerkungen zu Corinna Billes erstem Roman “Theoda“ anlässlich der Neuübersetzung von Gabriele Zehnder im Rotpunktverlag, 2014

“Auf dem Bauch liegend schrieb ich auf der Terrasse des elterlichen Paradou in Sierre (Siders), im Schatten seines Säulengangs, der mit Blumenfresken geschmückt war und Kloster wie auch Badepalast darstellen konnte. Über mir hörte ich die Pappelwipfel rauschen und glaubte, in dieser ersten Zeit des Kriegs im Sausen des Föhns die Klagen des bevorstehenden Völkermords zu hören. Aber ich dachte so wenig wie möglich an den Krieg, ich dachte leidenschaftlich an mein Buch“ – schreibt Corinna Bille 1940 in einem kleinen, 1979 gedruckten Aufsatz anlässlich des 40jährigen Jubiläums der Westschweizer Büchergilde Gutenberg (geleitet von Albert Mermoud). Bis zu diesem Buch, dem Roman Theoda, hatte sie ein Gedichtbändchen und einige kleinere Texte in Zeitschriften veröffentlicht. Dieser Roman nun sollte ihr erster großer Erfolg werden. Ihr Vater, der Maler und Schriftsteller Edmond Bille hatte ihr das Thema nehegelegt: ein Liebespaares wird mit seinem Komplizen nach dem Mord am Ehemann der Frau hingerichtet. Es war die letzte Hinrichtung im Wallis (1842). Die Mär von diesen drei Leuten, die stolz und mit einem Lächeln das Schafott bestiegen hatten, war in der Gegend dort nicht vergessen. Noch dazu war einer der Täter ein Vorfahre Corinnas mütterlicherseits. Sie war die Ururenkelin des Mörders. Dieser soll im Gefängnis so über seine Schuld geweint haben, dass er schließlich von der Familie wie ein Heiliger angesehen wurde. Seine Tochter, also die Urgroßmutter von Corinna, die sie im Übrigen als kleines Kind im Krankenbett liegend noch gesehen hatte, musste sich jedoch immer wieder einmal von ihrem Mann den Vorwurf anhören, sie sei die Tochter eines Mörders. Als Corinna Bille den Roman zu schreiben begann, wusste sie jedoch von dem allem noch nichts. Die Familie hatte geschwiegen. Dass ihr dieses Thema aber zugesagt hat, zeigt sich an ihren Aussagen: “Mir steht der Sinn schrecklich nach Drama“ und “Der Akt des Schreibens ist das Äquivalent des Liebesaktes. Ein Mord manchmal auch. Es gibt Mörder, Säufer und Brandstifter in meinen Geschichten. Und merkwürdigerweise tragen sie zur Konstruktion meiner selbst bei“. (1968)

Nun, 1940, reicht sie den Roman zum Wettbewerb der Büchergilde ein und schreibt als Pseudonym auf den Buchdeckel: Ich mag die Lauen nicht, sagt Gott. Ich auch nicht. Sie bekommt keinen Preis und holt kleinlaut ihr Manuskript wieder ab. Dabei sieht sie zum ersten Mal Albert Mermoud, der sie “spöttisch und neugierig“ anschaut. Beide wissen nicht, dass er Jahre später (1958) diesen Roman Theoda in einer Prachtausgabe sowie weitere Werke von ihr in seinem Verlag publizieren wird. Zunächst aber macht sie sich daran, das Manuskript gründlich zu überarbeiten. Sie konsultiert die Archive in Sion/Sitten, befragt Nachkommen, sucht die Gegenden auf, in denen die Geschichte spielte (Montana wird im Roman zu Terroua, Corin, das Dorf ihrer Mutter – von dem sie ab dieser Zeit ihren Schriftstellernamen ableitet und sich von nun an S. (Stéphanie) Corinna Bille nennt – wird Pragnin etc.) und gelangt zu einer sorgfältigen Komposition des Romans. (Wie bei vielen Werken erschließt sich die Konstruktion mit ihren Parallelen am besten bei der zweiten Lektüre). 1959 schreibt sie: “Dieses Buch hat mich viel Mühe gekostet. Durch meine Besuche in den Archiven von Sion und bei den Nachkommen meiner Helden war ich bald ganz und gar mit dem wirklichen Geschehen überfrachtet, statt der Phantasie freien Lauf lassen zu können. Ganze Kapitel strich ich wieder und schrieb andere stattdessen. Das Erstellen dieses Buchs hat mir unendlich viel Freude gemacht, aber auch so manche Verzweiflung verursacht.“

Der Schriftsteller Georges Borgaud, mit dem sie zu dieser Zeit liiert ist, nimmt Anteil daran; er ist ihr “eine große Hilfe“, kritisiert aber auch ihren Stil. Seine Kritik schildert sie ihrer Mutter: “Der vulgäre, gewöhnliche Ton, der den Zauber des Übrigen zerstöre. Meine proletarische Seite. Eine Sprache zu nah an der gesprochenen. Zu direkt. Zu drastisch.“ Bald allerdings kommt es zum Bruch mit Borgeaud, als sie sich nämlich in seinen Freund Maurice Chappaz verliebt. Nun liest dieser das Manuskript, und erteilt zusammen mit Alexis Peiry, dem ehemaligen Lehrer am Collège St-Maurice und Mitglied des Freundeskreises, der “Chevallerie errante“, Ratschläge. Peiry gefällt gerade die “direkte Sprache“; Corinna zitiert: “Er findet das Buch sehr schön, ziemlich einzigartig, merkwürdig; er ist berührt von seiner religiösen, ursprünglichen, wilden, biblischen Seite (das sind seine Adjektive). Er ist auch überrascht, dass meine Technik (auch ein Ausdruck von ihm) ohne Latein etc. so gut ist. […]“. Er macht offenbar manche der Änderungen von Borgeaud rückgängig. Und Maurice Chappaz schreibt an sie: “Wie mir diese Verbundenheit mit den Jahreszeiten, den Ritualen der Erde gefällt – alles, was die Religion angeht, hat einen ernsten, magischen Ton – dieser ursprüngliche, gewaltsame Charakter, der die Menschen prägt. Und die Kindheit ist hier wie eine Weisheit, die von innen heraus alles sieht, ein Spiegel, der Größe und Frische verleiht…“; aber auch er übt Kritik und ermuntert Corinna, sorgfältig weiter daran zu arbeiten, denn “man soll die Empfindung von großer Schönheit haben, wenn man das Buch schließt.“ Für ihn ist dieser “schöne Roman ein subtiles Dokument von Sitten, Gebräuchen und Leidenschaft“.

Diese Zitate lassen bereits die Atmosphäre des Romans erkennen; die Handlung spielt fast aufs Jahr genau hundert Jahre vor dem Niederschreiben. Eine schöne Frau aus einem anderen Tal heiratet den Bruder des damals siebenjährigen Mädchens Marceline, aus dessen Perspektive das Geschehen erzählt wird und das im Lauf der Erzählung heranwächst. Das Drama, das sieben Jahre später mit der Hinrichtung der Liebenden enden wird, wird uns von Marceline retrospektiv erzählt, “mit meinen heutigen Augen“, jeweils angepasst an die Sicht der älter werdenden Marceline. Es ist eingebettet in den Ablauf der Jahreszeiten mit den bäuerlichen Arbeiten und in die Feste des Kirchenjahrs. Marceline war zur Zeugin des Ehebruchs ihrer Schwägerin mit einem Dorfbewohner geworden und trägt jahrelang an der Last, Mitwisserin dieser Sünde zu sein; niemandem wagt sie sich anzuvertrauen, sie “verliert ihre Freude“. Die schöne Fremde liebt einen Mann aus dem Dorf, den die anderen für stolz und unnahbar halten, aber Marceline spürt bei ihm “eine sanfte Harmonie“, und ihr wird später klar, “wie sehr diese Milde, die er ungewollt ausströmte, für Theoda kostbar, ja schließlich notwendig sein musste“. Für ihren älteren Bruder hingegen, den Ehemann, empfindet sie Mitleid, schämt sich aber auch seiner “Schüchternheit, die rasch in Prahlerei umschlug“, seiner “unregelmäßigen Gesichtszüge“. Man fragt sich, warum wohl Theoda, die schön war und das Schöne liebte, diesen schlichten, hässlichen Barnabé geheiratet hat. Kannte sie ihren Liebhaber, der ja auch verheiratet war, schon und wollte ihm durch die Hochzeit näher sein? Als Marceline nach der Hinrichtung in ihr Dorf heimkehrt, spürt sie “als ob eine Rose von mir abgefallen wäre, dass meine Kindheit zu Ende war.“

Im Jahr 1944 erscheint dieses Buch dann in dem kleinen Verlag “Portes de France”, vor allem dank Pierre Olivier Walzer, Jean Cuttat und Georges Borgeaud. Dieses Verlagshaus in Porrentruy bot von 1939 bis 1945 auch Autoren im besetzten Frankreich eine Publikationsmöglichkeit. (Corinna Bille hätte viel lieber in Frankreich statt in der Schweiz publiziert; erst 1975 sollte es dazu kommen und sie von Gallimard herausgegeben werden).

Sofort interessiert sich Charly Clerc, Professor für Französische Literatur am Polytechnikum in Zürich, für “Théoda” und bittet Corinna Bille um Auskünfte über den Roman, den er in einer Vorlesung behandeln will. Corinna fragt bei der Mutter an, ob sie sagen solle, dass die Einzelheiten zum bäuerlichen Leben von ihr, der Mutter mit der bäuerlichen Herkunft, kommen. “Ich legte viel von meiner Mutter und von mir in Marceline, das kleine Mädchen, die Rezitatorin dieses Dramas, dieser unbändigen Liebe, die sie nicht immer versteht, von der sie aber fasziniert ist.“

Zu dem Verkaufserfolg, auch die Schillerstiftung kauft 500 Exemplare, und den positiven Rezensionen gesellt sich ein Übersetzungsvertrag ins Deutsche (von Marcel Pobé im Steinberg-Verlag Zürich); allerdings erscheint diese Übersetzung erst 1963 – das Übersetzungsmanuskript war verloren gegangen und nach Jahren auf einmal wieder aufgetaucht… Auch in andere Sprachen wird er übersetzt (italienisch, russisch, rätoromanisch, hebräisch).

1945 bekommt sie für diesen Roman den Schillerpreis. Theoda wird bis heute immer wieder aufgelegt. Die Umschläge der bisherigen deutschen Übersetzungen wie auch anderer ihrer Werke zieren Illustrationen ihres Vaters – was womöglich mit dazu beigetragen hat, dass sie manchmal in die Ecke einer Walliser Heimatschriftstellerin gestellt wurde…

Auf die erste Übersetzung ins Deutsche (von Marcel Pobé) folgte 1985 eine zweite, inzwischen längst vergriffene von Elisabeth Dütsch im nicht mehr existierenden Verlag Castella, und nun bringt der Rotpunktverlag, in gewohnt schöner Aufmachung, eine dritte heraus. Eine kleine Bemerkung zur im Allgemeinen recht angenehmen Übersetzung: wenn (im 17.Kapitel) eine Metapher aufgelöst wird und aus »une dizaine de verges« –  “ein Bündel Ruten“, das Theoda dann als Brennholz verwendet –  »zehn Phallusse» (Plural!)  werden, dann ist das schon etwas befremdlich.

Wie schön, dass dieser wunderbare Roman endlich wieder – oder überhaupt – zu lesen ist.