Chappaz dreimal auf Deutsch

Rolf Fieguth

Vom Gehüstel zum Tosen der Vulkane.

Oder: Maurice Chappaz dreimal auf Deutsch.

 


 

Die nachfolgende kritisch-selbstkritische Glosse zu Übersetzungs- und Redaktionsfragen stammt von Maurice Chappaz’ deutschem Mitübersetzer: Rolf Fieguth ist Literaturwissenschaftler (Slavist) sowie Autor wissenschaftlicher und literarischer Übersetzungen aus mehreren Sprachen.

 

Von Maurice Chappaz (1916-2009; Großer Schillerpreis 1997), liegen immerhin elf Bücher in deutscher Übersetzung vor, zuletzt das von Charles Linsmayer herausgegebene Lesebuch In Wahrheit erleben wir das Ende der Welt (2012), und Die Tabakspfeife betet und raucht (2013). Das Echo in der Deutschschweiz blieb dennoch verhalten. Chappaz war von Abscheu vor der Moderne besessen. Das schuf Verbindungen zum ökologischen Widerstand, aber auch zu den Gegnern von Vatikanum II, zu Buddhisten und Esoterikern verschiedenster Art. Aus seinem am Fortschritt verendenden Wallis spannte er Horizonte bis nach Russland, Tibet, ins Eismeer und in den hohen Himmel – doch selten genug in die übrige Schweiz. Sein sehr komplexer, den Leser, den Übersetzer (und jeden Lektor oder Herausgeber) besonders fordernder Stil hat den Transfer ins deutsche Sprachgebiet nicht erleichtert.

Zu seinen (mitunter kritischen) Bewunderern zählen, zusätzlich zu dem sehr um ihn verdienten Beat Brechbühl, sein bisheriger Übersetzer Pierre Imhasly, seine „jüngsten“ Übersetzer, Hilde und Rolf Fieguth, sowie sein letzter Herausgeber und de facto ebenfalls Übersetzer, Charles Linsmayer. Ihre drei deutlich unterscheidbaren Übersetzungsstile sollen im Folgenden nebeneinander gestellt werden, wobei die Fieguthsche Übersetzung unverstümmelt nur im Manuskript existiert (gedruckt ist die von Linsmayer selbstherrlich umgearbeitete Version unter dem Namen Hilde und Rolf Fieguth). Imhasly setzt auf Klangmacht und Rhythmus des Chappaz’schen Wortes, Fieguths wollen die Schwingungen, Sprünge und Brüche in Chappaz’ Diktion und Denken im Deutschen nachbilden, Linsmayer dagegen ficht für den eingängigen Fluss der deutschen Version und betrachtet das Übersetzen als einen Akt fortwährenden Erklärens.

Die nachfolgenden Beispiele beziehen sich auf einen Auszug aus dem Evangelium nach Judas, an dem alle drei sich versucht haben.

Imhasly, mehrsprachiger wortgewaltiger Dichter aus dem Wallis, war mit dem welschen Landsmann persönlich bekannt und vertraut und darf daher als Autorität gelten. Aber wer Stellen aus wie die folgende aufmerksam, Wort für Wort, liest, wird sehr befremdet sein:

 

Ich kehre zurück ins Dorf.

Unser Glaube verdunstet.

Eine Sache von fünfzig Jahren. Wir haben Judas beerbt. Mit allem. Der Strick, das Geld, der Ehrgeiz und das Verlangen, es gut zu machen. Ich gehe in dieses Dorf der Zukunft (die Augen schließen genügt, und ich bin da). Ein anderes Evangelium schreibt man. Ein anderes Paradies hat man erfunden. Gott hat man zivilisiert … Die Lehrmeinungen vervielfältigt, sind unsere Worte wie zappelnde Fische, die sich davonmachen. Judas ist es (ganz neu), der den Seelsorger meiner Pfarrei ersetzt. Er hat guten Willen. «Um zu glauben, muss man verstehen», versichert er. Und um zu leben? Für dieses hier also, wäre dafür Vater Ischariot gestorben, verschlungen von der Politik? Im Schlepptau der Masse dann, im Stich gelassen dann, Hals über Kopf gepurzelt dann, wie es die Apostel sahen, gehangen dann, die Eingeweide hinabgeglitten dann vom Bauch bis auf die Steine? [Est-ce donc pour cela qu’Iscariote père serait mort, englouti dans la politique ? puis à la traîne de la foule, désavoué, il a culbuté la tête la première, comme l’ont vu les apôtres, les entrailles dévalant du ventre aux cailloux ?]

 

Der Nominativus absolutus (« construction absolue ») des Französischen geht im Deutschen nicht: „Die Lehrmeinungen vervielfältigt, sind unsere Worte wie zappelnde Fische“. Sehr unsortiert wirkt „Für dieses hier also, wäre dafür Vater Ischariot gestorben“. Und „im Stich gelassen dann“, „gepurzelt dann“, „gehangen dann“ [steht nicht im Original], „hinabgeglitten dann“? Rechtfertigt der Wille zum rockenden Rhythmus – den Chappaz gar nicht hat! – das Übereinanderpurzeln der Satzteile? Und „im Schlepptau der Masse“ ist etwas anderes als Judas’ Körper (oder Leichnam?), den die Menge mit sich schleift.

Unsere Übersetzung lautet wie folgt:

 

Ich gehe in mein Dorf zurück.

Unser Glaube verdunstet.

In fünfzig Jahren ist es soweit. Wir haben von Judas geerbt. Alles, den Strick, das Geld, den Ehrgeiz und den Wunsch, es gut zu machen. Ich gehe in mein Dorf der Zukunft (ich muss dazu nur die Augen schließen). Wir schreiben ein anderes Evangelium. Wir haben ein anderes Paradies erfunden. Haben Gott zivilisiert… Die Doktrinen werden immer mehr, unsere Worte sind wie Fische, die sich in Bewegung setzen und schnell weg sind. Jetzt ersetzt Judas (ganz neu) den Pfarrer meiner Gemeinde. Er ist voll guten Willens. «Man muss verstehen, um zu glauben», versichert er. Doch um zu leben? Und dafür soll also Ischariot Senior gestorben sein, ganz aufgefressen von der Politik? Von der Menge geschleift, geschmäht, kopfüber geworfen, wie ihn die Apostel gesehen haben, und seine Eingeweide hingen aus dem Bauch auf die Kiesel.

 

Der letzte Satz ist auch nicht optimal. „Kopfüber aufgehängt“ wäre besser (obwohl Chappaz das Wort aufhängen gerade meidet). Und wer wird erkennen, dass der illegitime syntaktische Wechsel „und seine Eingeweide hingen aus dem Bauch auf die Kiesel“ dem Original nachgebildet ist und auf die Erzählwelt der Apostelgeschichte anspielt?

Jedenfalls erschauerte Charles Linsmayer beim Anblick dieser Übersetzung. Ohne Rücksprache mit uns Partnern werkelte er sie gründlich um – so, wie an unzähligen anderen Stellen seines Lesebuches auch. Wie er in seiner Version insgesamt Imhasly und Fieguth mixt, sei dem Leser hier erspart. Bemerkenswert allerdings: Judas’ Erbe umfasst bei ihm „den Wunsch, es wiedergutzumachen“. Chappaz’ Formulierung „le désir de bien faire“ gehört zu den zahlreichen Beispielen seiner undurchsichtigen Spiele mit Bedeutungen und Assoziationen – seine Sache tun; es gut und richtig machen; wohl tun (auch in der Liebe); vielleicht auch: Gutes tun, als Wohltäter wirken. Dies hat keine der drei Übersetzungen wirklich getroffen, am allerwenigsten Linsmayers abwegiger Verdeutlichungsversuch.

 

Ein weiteres Stück aus dem gleichen Text lautet bei Imhasly wie folgt:

Das Welt-Tier ist gerade am Entspannen.

Schmutzig und rein, wo, will man es erzählen, es alles braucht, auch das absonderlichste Gezirpe der Zikaden mit dem Husten von Vulkanen.

Die mondäne Kirche verrät, beschwatzt, benebelt sich. [L’animal-monde se relaxe.

Sale et pur, où tout est nécessaire, s’il se raconte, les stridulations les plus étranges des cigales aux toussotements des volcans.

L’église-monde trahit, s’étourdit et bavarde.]

 

Wieso ist das Welt-Tier „gerade am Entspannen“ (macht es Joga, oder ein Schläfchen?). Und was soll der Wortsalat „Schmutzig und rein, wo, will man es erzählen, es alles braucht“ – ?

Fieguths versuchen es folgendermaßen:

 

Das Welt-Tier darf sich entspannen.

Schmutzig und rein, alles ist hier notwendig, wenn es erzählt wird, vom höchst sonderbaren Gezirpe der Grillen bis zum Gehüstel der Vulkane.

Die Kirche, zur Welt geworden, verrät, betäubt sich und plappert.

 

Nicht alles an dieser unserer Version ist unangreifbar. Wir hätten das etwas manierierte (und nicht vollauf korrekte) „Gezirpe der Grillen“ sowie das „Gehüstel“ durch das „Zirpen der Zikaden“ und das „Hüsteln“ der Vulkane ersetzen sollen. Nicht optimal gelöst haben wir die Parallele „l’animal-monde“ („das Welt-Tier“), „l’église-monde“ („die Kirche, zur Welt geworden“) – besser hätten wir „das Tier Welt“, „die Kirche Welt“ gewagt.

Voll zur Geltung kommt Linsmayers Ideal einer breit erklärenden Übersetzung in seiner Version: „Die Welt, die immer auch Tier ist, fühlt sich befreit“ – „Die Kirche, auch sie Teil dieser Welt, verrät, betäubt, verschwatzt sich.“ Zwar kommt hier der Parallelismus zur Geltung, auch das „fühlt sich befreit“ überzeugt. Dagegen ist die jovial-pastorale Verharmlosung „Die Kirche, auch sie Teil dieser Welt“ geradezu sträflich. Surreal wird Linsmayer in der Formulierung:

„Schmutz und Reinheit, beides ist unabdingbar, wenn sie sich darstellt, vom schrillsten Gezirpe der Grillen bis zum Tosen der Vulkane.“

Chappaz’ Satz „Sale et pur, où tout est nécessaire, s’il se raconte, les stridulations les plus étranges des cigales aux toussotements des volcans » ist einer von vielen, die sich durchgreifendem Verständnis entziehen. « Darstellen » im Sinn von « dichterisch darstellen » könnte als Übersetzung von « raconter » (erzählen) hingehen, aber nicht « sich darstellen ». Aber wer oder was ist bitteschön « sie », die « sich » hier darstellt? Die Reinheit ? Die « Welt, die immer auch Tier ist » , und somit schmutzig und rein? Dies Letztere ließe sich ja hören, aber man weiß hier es beim Erklärer Linsmayer noch weniger als bei Imhasly oder Fieguths, den Nicht-Erklärern.

Bei den Grillen oder Zikaden und Vulkanen haut Linsmayer richtig auf die Pauke : vom schrillsten Gezirpe bis zum Tosen, schreibt er. Tosen erscheint ihm verständlicher als Chappaz’ toussotements, Imhaslys Husten oder unser Gehüstel (bzw. Hüsteln) der Vulkane. Im Original droht übrigens der Gegensatz zwischen dem absonderlichsten Zirpen der Zikaden und dem Hüsteln der Vulkane in typisch Chappaz’scher Manier zu kippen : wenn wir nahe daran sind, kreischen die Zikaden lauter, als ferne Vulkane hüsteln. Kippen aber kann Linsmayer nicht gebrauchen, er benötigt den schönen Effekt des eindeutigen Gegensatzes. –

Unverfälscht ist unser Stil der Übertragung von Chappaz in dem Buch Die Tabakspfeife betet und raucht. Kein Herausgeber, kein Lektor hat hier eingegriffen, und alle Seltsamkeiten gehen auf unser Konto. Ein Beispiel:

 

21.AUGUST.

 

Der Abend legt sich auf das Espenwäldchen, die grünen Blätter wispern, manche sind schon gelb und verloren und wirbeln unter unseren Fenstern. Weiter oben tanzen die Lärchenwipfel, man erahnt den Abhang, auf dem sich dicke Erlenunterröcke drehen.

Der Wald wallt.

Unser Chalet harrt.

Ich verspüre gemeinsam mit ihm eine Riesen-Liebkosung, den Geifer des Winds. Dann, von Blitzen verkündet: Donnerschläge, danach ein Knacken, ein Gähnen des Abgrunds, dass es schier die Wasserleiten aus den Felsen reißt.

Das Gewitter ohrfeigt das Dach.

 

Warum die irritierende Diskrepanz zwischen La forêt se soulevait. / Le chalet attend? und „Der Wald wallt. / Unser Chalet harrt“? Die Imperfektform wird bei Chappaz zum doppelten Binnenreim herangezogen (forêt – soulevait – chalet). „Der Wald wallt“ ergibt vollends einen tautologischen Reimeffekt, wie Chappaz ihn an anderen Stellen häufig sucht – hier ließ er sich einmal im Deutschen reproduzieren. Auch kam es uns auf den klanglichen Mehrwert von wispern, wallt, harrt, Knacken, Gähnen an. Aber Erklärung hin oder her: jede Übersetzung dieses eigenartigen Autors bietet ihre Angriffsflächen. Trotz alledem hat es seinen Sinn, Chappaz zu übersetzen und ihn in Übersetzung zu lesen. Schon französische Muttersprachler haben ihre Mühe, ihm zu folgen; Deutschschweizern, die noch gut Französisch gelernt haben, werden bei bloßer Lektüre der Originale ganze Dimensionen einfach entgehen. Übersetzungen möchten sie genussfähiger machen.

Maurice Chappaz, Evangelium nach Judas : Erzählung, aus d. Franz. übersetzt von Pierre Imhasly, Waldgut Verlag, Frauenfeld 2006; CHF 36,-

Maurice Chappaz, In Wahrheit erleben wir das Ende der Welt. In der Übertragung von Hilde und Rolf Fieguth [vom Herausgeber willkürlich verändert] zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Charles Linsmayer, Verlag Huber, Frauenfeld 2012; CHF 35,-

Maurice Chappaz, Die Tabakspfeife betet und raucht. Dt. von Hilde und Rolf Fieguth. Mit Monotypien von Pierre-Yves Gabioud, Rotten Verlag, Visp, 2013; CHF 39,-

http://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Chappaz („Deutschsprachige Werksausgaben“)