Auf dem Weg in ein Dorf, das es nicht mehr gibt

Im Jahr 1930 – ich kenne Leute, die in diesem Jahr geboren sind und die noch leben, es ist also nicht so lange her – wurde ein Dorf, und zwar in der Schweiz, im Wallis, geschleift; die 56 Menschen, die dort gewohnt hatten, mussten sich irgendwo im Tal ein neues Leben aufbauen. Nicht alle haben das geschafft. Der Grund für ihre Vertreibung: die reichen Bauern unten im Tal (jedenfalls waren sie reicher als die bitterarmen Menschen oben) hatten aus ihren Weiden Weinberge und Obstplantagen gemacht und brauchten neues Weideland für ihre Kühe. Auf die der Sonne zugewandte kleine Hochebene weit oben (1313m) hatten sie seit langem ein Auge geworfen. Mit Hilfe der Obrigkeit und der Kirche ist es ihnen gelungen, sie zu erwerben. Man muss allerdings zugeben, dass dieses kleine abgelegene, im Winter wegen Lawinen unzugängliche Dorf – Randonnaz, im Roman Zampé – keine Zukunft mehr hatte – die meisten der jungen Leute hatten es bereits verlassen, für die zurückgebliebenen Alten und Kranken gab es keine Perspektive.

Trotzdem: Ich werde dir etwas sagen, Herr Lehrer: Zampé bedeutet nicht nur Häuser, Scheunen, Speicher, Wiesen, Gärten und Felder. Nicht nur Gras und Roggen. Nicht nur das Vieh, das wir großziehen und das uns das Leben ermöglicht. Das alles könnten wir, das weiß ich, auch woanders finden. Was wir aber woanders nicht finden könnten, das ist die Luft von Zampé, der Frieden von Zampé, der Himmel von Zampé und unter der Erde die Wurzeln unseres Lebens.

Die Geschichte dieses Dorfs hat Maurice Zermatten in dem Roman “A l’Est du Grand-Couloir“ aufgeschrieben. Die Fakten stimmen, bei den Schicksalen der Menschen hat er sich sicherlich manch dichterische Freiheit erlaubt. 2006 las ich eine Besprechung dieses Romans samt Wanderbeschreibung in dem Band “Dies Land ist maßlos und ist sanft. Literarische Wanderungen im Wallis“, Rotpunktverlag, unter dem Titel: “Seither wächst hier nur noch Gras“ [Roland Gysin]. Es hat dann 11 Jahre gedauert, ehe ich mich auf den Weg in dieses “Dorf“ machte; bisher hatte ich nur vom Zug aus, zwischen Fully und Saillon, immer wieder vergeblich versucht, den Grand-Couloir zu erkennen. Inzwischen hatte ich den Roman übersetzt.

Anders als in dem Wanderführer vorgeschlagen (von Ovronnaz mit der Sesselbahn nach Jorasse), suchte ich mir den Weg, wie er vom Erzähler des Romans beschrieben wird. Dieser, das Alter Ego Zermattens, ein älterer Mann, hat zufällig in einem Kanal im Rhone-Tal die Leiche eines Selbstmörders entdeckt; in ihm, einem alten Mann, erkennt er den jungen Burschen, den er als Kind gekannt hat. Vor Jahren hatte er einmal einen Winter mit seinem Vater, der vorübergehend im Dorf Lehrer war, dort oben im Dorf verbracht. Nun werden Erinnerungen wach, und er will wieder einmal hinauf; in Begleitung der Schwester des Verstorbenen, Marthe, macht er sich auf den beschwerlichen Weg, seine Erinnerungen an den Ort (er weiß, dass er nicht mehr existiert) und an die Bewohner werden lebendig bei Marthes Erzählungen.

Nun also. Ein heißer Septembertag. Ich suche den Aufstieg in Mazembroz, östlich von Fully. Die Wegbeschreibung im Roman klingt ja anstrengend, aber da eine junge Frau mit Kinderwagen, die ich nach dem Abzweig frage, ihn mir ohne weiteres zeigt und sich offenbar nicht wundert, dass eine alte Frau den Aufstieg wagen will, bin ich beruhigt (die junge Frau war aber unter Garantie diesen Weg nie gegangen) und folge dem gelben Wanderwegweiser. Zuerst ein schattiges Wäldchen, Föhren, Kastanien, Ahorn, ein idyllisch in der Sonne liegender Fels voll Hauswurz und Thymian, dann aber beginnt die Steigung. Und irgendwann kommt in solchen Situationen der Moment, an dem man dann auch nicht mehr zurück will… Der Weg führt zu einer steilen Felswand, und nun galt es, sich am Fels an Drahtseilen einige hundert Meter entlang zu hangeln. Bei Zermatten: Er sah das Maultier vor sich, das ruckartig voranging, mit gestrecktem Hals die Steilhänge erstürmte, dann wieder Atem schöpfte. Das Gepäck schwankte auf dem Packsattel. (…) Der Weg ging nun jäh wieder bergan. Er führte in engem Zickzack den steilen Hang hinauf, so abrupt, dass Jean Roduit auf der Höhe des Gepäcks gehen musste, das er mit hochgehobener Hand im Gleichgewicht hielt. Das Maultier hielt an, holte Schwung, hielt wieder an. Vater hatte gesagt: ›Da verstehe ich, dass bei Schnee kein Mensch hier gehen kann…

Mir unvorstellbar, wie der Auszug der Dorfbewohner auf diesem Weg mit Maultieren und Gepäck stattgefunden haben kann (ob es doch noch einen anderen, wenn auch viel weiteren Weg gibt? s. die zwei Anmerkungen). Der Erzähler:

Nachdem ich nun die Gegenden wiedergesehen habe, kann ich mir diesen Exodus, der einen Monat lang gedauert hat, vorstellen, das Treiben der Männer und Frauen um Martins Schlittenkarren herum, die Pannen, das Durcheinander schlecht befestigter Möbelstücke, die Bündel, die sich auflösen und kaputt gehen, der alte Schrank, der auseinanderfällt, die Betten, die ächzen, die wurmstichigen Bettsäulen, die bersten. Karawanen, die sich stöhnend im Morgengrauen hastig in Bewegung setzen und über die Brücke über den Grand-Couloir holpern, ächzen bei den Steigungen, durcheinander geraten beim Abstieg.

Foto aus: Fully Tourisme Beudon

Am Fels entlang stieg der Weg noch nicht sehr an, aber dann… Das Weglein zwischen Berg und Gebüsch war sandig, ich rutschte immer wieder zurück und zog mich zwischendurch an Grasbüscheln hinauf. Endlich wurde es wieder fast eben, in den Bäumen und Sträuchern ahnte ich ein Haus, und schon hörte ich eine Stimme, sah aber niemanden. Dann entdeckte ich etwas unterhalb des Wegs hinter Gebüsch eine Frau an einem Holztisch, die mich zu sich in den Schatten einlud. Von ihr erfuhr ich, dass ich keineswegs in Sand gerutscht war, sondern in Löss, und das ist der fruchtbare Boden, auf dem ihr so hoch gelegener Weinberg gedeiht. Ich war in der Domaine de Beudon, einem Bio- Weingut. Auch diese Frau wunderte sich nicht, dass ich auf diesem Weg gekommen war (ich war fast enttäuscht…) – das ist eben der Weg. Für das Weingut gibt es aber zum Glück einen Lastenaufzug.  Sie kennt den Roman. Später erfuhr ich, dass vor kurzer Zeit ihr Mann, der Winzer, beim Arbeiten in dem steilen Weinberg ums Leben gekommen war – sein Traktor war umgekippt und hatte ihn unter sich begraben.

Nach der Rast bei dieser sympathischen Frau geht es weiterhin steil bergan. Irgendwann zweigt ein Weglein ab, auf dem gelben Wegweiser steht “Moulin de Chiboz“, und ich sehe auch weiter unten ein kleines helles Gebäude, gehe diesen Umweg aber leider nicht; erst im Nachhinein fällt mir ein, dass diese Mühle mit ihren Legenden im Roman eine Rolle spielt. Der Weg geht, nur sanft steigend, durch Wald und Gebüsch weiter, stellenweise an einer hölzernen Wasserleite (oberhalb der Mühle) entlang.

Fast ohne es zu bemerken, überquere ich ein trockenes Bachbett, es muss der gefürchtete “Grand Couloir“ sein – er hat seinen Schrecken verloren. Der Erzähler im Roman erlebte es, einige Jahrzehnte davor, noch anders:

Das Schauspiel war schrecklich und großartig. Eingezwängt zwischen steinigen Ufern rollte der Wildbach in wilder Raserei den Abgründen zu. Nichts als tönendes Aufwallen, Wüten von lauten Wellen, die die hohen vom Berg gestürzten Felsbrocken mit voller Wucht peitschten. Mit aller Gewalt biss die Meute in sie hinein; Geifer prallte herauf, stieg in die Luft; das ununterbrochene Schlagen des Wassers gegen diese Hindernisse füllte die Luft mit dumpfer Verzweiflung, strömte Entsetzen aus.

Marthe: Wir müssen noch ein wenig weiter hinunter. Ich kenne das Höllenloch (…)

Er hatte soeben verstanden, dass er, um in das Paradies von Zampé zu gelangen, über das Höllenloch springen musste…

Dann hört der Wald auf, es geht über Wiesen, das Weglein macht eine Kehre und plötzlich – liegt die sonnenbeschienene Hochebene vor mir. An einer winzigen Kapelle (Bethäuschen – oratoire) erkenne ich sofort, dass ich “im Dorf“ angekommen bin. Nach körperlicher Anstrengung ist man ja oft besonders empfänglich für Gemütseindrücke – ich war überwältigt und bewegt.

In dem Oratoire (1956 errichtet) stehen auf einer Tafel die Namen der verjagten Familien. Die meisten tauchen auch im Roman auf.

Marthe erzählt die Schicksale dieser Menschen, zeigt die Stellen, wo die jeweiligen Häuser gestanden haben. Für das Weideland wurden sie im wahrsten Sinn geschleift, sorgfältig eingeebnet, damit sich die Kühe nicht verletzen konnten…

aus dem Internet: Randonnaz 1930, Phototèque

Aber nun wieder zu mir – wie weiter? Den gleichen Weg zurück, wie ursprünglich geplant, wollte ich auf keinen Fall gehen. Ich versuchte, dem Vorschlag aus dem Wanderführer zu folgen. Also ein Stück zurück über den “Wildbach“ in das gegenüberliegende Dorf Chiboz, das ausgestorben wirkte und, wie mir schien, überwiegend aus Ferienhäusern bestand, und hier dem Teersträßlein folgen. Bald hielt ein Auto neben mir, und eine Frau, die mich schon im Ort beobachtet hatte, lud mich zum Mitfahren ein. Auch sie hat den Roman gelesen. Sie erzählt, dass sich bis vor ganz wenigen Jahren die ehemaligen Bewohner und ihre Nachkommen in jedem Jahr einmal bei dem Oratoire zu einer Messe versammelt haben. Was hätte ich auf meinem Weg ohne diese Frau gemacht? Die Straße führte in endlosen (stundenlangen…) Serpentinen hinunter nach Fully.

Und dann kam irgendwann das Postauto zum Bahnhof Martigny… und während ich auf den Zug wartete, sah ich vom Bahnsteig aus plötzlich die Hochebene, von der ich kam, (nun leicht erkennbar an einem langgestreckten weißen Gebäude, dem neuen Stall) und winkte ihr zum Abschied noch einmal zu (oder winkte sie mir?).

Blick vom Zug aus. Der weisse waagrechte “Strich“ in der Mitte im oberen Drittel ist der “neue“ Stall.

Anmerkung: Nachdem ich, nach meiner Wanderung, den Roman noch einmal gelesen und eine genaue Karte studiert habe, gab es wohl einen anderen Aufstieg nach Zampé (Randonnaz); da seit der Zeit der Erzählung eine Straße gebaut worden ist (Mitte der fünfziger Jahre), kann man diesen Weg nicht mehr genau nachvollziehen. Er ging wohl oberhalb von Fully, Vers l´Eglise [Grillesse] durch den Kastanienwald-Châtaignier nach Euloz oder Buitonnaz [Audes], über den Torrent d’Echerche [premier couloir] nach Chiboz d’en Bas [Crétouille], hier in das Gasthaus, “Relais des Chasses“ [Auberge des Chasseurs], über den Grand-Couloir, zur inzwischen wieder aufgebauten Mühle und dann nach Randonnaz [Zampé].

Anmerkung 2: Und es gibt heutzutage folgende im Internet entdeckte Möglichkeit, die wir (Rolf war dabei) am 9.8.2020 wahrgenommen haben: eine Navette fährt auf dem steilen Sträßchen mit vielen Haarnadelkurven, also wohl mehr oder weniger auf dem alten Weg, leicht abenteuerlich nach Chiboz d’en Haut (und sogar noch weiter nach Erié) hinauf.

 Auf diesem Ausflug habe ich nachgeholt, was ich beim ersten Mal versäumt hatte. Nachdem wir das Oratoire nicht gefunden hatten (im literarischen Wanderführer: ab dem Stall “gehen wir schnurgerade talwärts über die Weide“) – die “Weide“ war steil und äußerst struppig und krautig, das Oratoire nicht zu sehen, soll man nach links oder rechts? – gaben wir nach mühseliger Kraxelei in der prallen Sonne auf, sahen es aber dann unmittelbar vor dem “Relais des Chasseurs“ (wo wir dann auch aßen) von weitem wunderbar liegen.

In der Mitte, etwas unterhalb der Weggabelung,links, kann man – mit etwas Vorstellungsvermögen – in dem weißen Fleck vielleicht das Oratoire erkennen.

Nach dem Essen machte ich mich allein auf die Suche nach der Mühle; das Weglein ging steil und kurvenreich über Stock und Stein durch den Wald Richtung Grand-Couloir hinunter, war aber gut ausgeschildert. Ich kam dann an die Stelle, an der ich vor zwei Jahren von Beudon aus angekommen (rot-weiß) und nicht zur Mühle weitergegangen war.

Die Mühle wurde 1993/94 von einer Initiative wiederaufgebaut und zum Brotbacken verwendet, sieht aber sehr unbenutzt aus, der Elan hat offenbar nicht angehalten (oder es wird vielleicht nur im Frühjahr gebacken).

 Ich machte also kehrt, kroch das steile Weglein mit vielen Pausen wieder hinauf und fand Rolf im Innern des Gasthauses vor, wo er “Randonnaz, Village disparu“ von Christophe Bolli las (es gab es an der Theke zu kaufen, den Roman nicht).

Auf meinem alten Weg ging ich weiter bis zur Überquerung des Grand-Couloir. Die sah dieses Mal etwas anders aus; offenbar war seit einem letzten Unwetter niemand mehr aufs andere Ufer gegangen. Da ich bereits ziemlich angestrengt war, wagte ich nicht, ca. 1m ins Bachbett hinunter zu klettern und über die Steine zum anderen Ufer zu balancieren; hier ging der Weg offensichtlich durch das Gebüsch weiter (in frischerem Zustand und wenn es nicht gar so heiß gewesen wäre, hätte ich es ohne Weiteres getan).

Er fühlte sich aber, obwohl es innen etwas kühler war) unter all den Geweihen nicht wohl. Dieses Wirtshaus wird unter dem Namen “Auberge des Chasseurs“ im Roman ausführlich beschrieben. Wir waren froh, als wir bald mit der Navette wieder hinunterkonnten, sehr zufrieden und bester Laune.

Zum Abschluss noch der Blick vom Wirtshaus aus ins Rhonetal