Artikel zu Corinna Bille

Artikel geschrieben für die online-Plattform www.viceversaliteratur.ch 2012: Das Jahr geht zu Ende, in dem der hundertste Geburtstag von S. Corinna Bille (1912-1979) gefeiert wurde. In großen Abständen waren seit 1963 (ihr wunderbarer erster Roman “Theoda“, 1944) immer wieder einzelne Bände in deutscher Übersetzung von ihr erschienen, vor allem im Waldgut Verlag. In diesem Jubiläumsjahr nun ist bei Nagel & Kimche der wichtige Novellenband “Schwarze Erdbeeren“ (1995 übersetzt von Marcel Schwander) wieder aufgelegt worden, und der Rotpunktverlag hat gleich drei sehr schön gestaltete kleine Bände zum ersten Mal verlegt: “Von der Rhone an die Maggia. Erzählung einer Wanderung“ (mit den historischen Fotographien der Erstausgabe); eine Wanderung, die dank der “Anleitung“ von Andreas Weissen zum Nachwandern einlädt. Dann “Dunkle Wälder“, ein kurzer Roman, der erst postum von ihrem Witwer, Maurice Chappaz, herausgegeben wurde und der ebenfalls in erkennbarer Gegend (Val de Réchy) spielt; in ihm will sie, neben beglückenden Erfahrungen mit der Natur und den Menschen dort in der Einsamkeit, auch “das Dunkle, das Drama von Leben und Tod“ zum Ausdruck bringen. Und als drittes die “Alpenblumenlese“, eine zauberhafte kleine Blumenerzählung (mit den gleichen Aquarellen von Pia Roshardt wie in der Originalausgabe), alle in der Übersetzung von Hilde Fieguth. Bereits 2007 war im Waldgut Verlag der “Venusschuh“, Corinna Billes zweiter Roman, erschienen (übersetzt von Hilde und Rolf Fieguth; greifbar im Waldgut-Verlag sind nur noch “Hundert kleine Liebesgeschichten“, 1992, übersetzt von Elisabeth Dütsch und “Mädchen auf weißem Pferd“, 1999, übersetzt von Curdin Ebneter). 2008 erschien in der Reihe Reprinted by Huber das Lesebuch “Das Vergnügen, eine eigene neue Welt in der Hand zu halten“ – “In der Übertragung von Hilde Fieguth zusammengestellt und mit einem biographischen Nachwort versehen von Charles Linsmayer“, eine Auswahl von Novellen, Gedichten, Ausschnitten aus Romanen und Briefen.

Noch längst nicht alle ihre Werke (Romane, Novellen, Märchen und Erzählungen für Kinder, Gedichte, Theaterstücke) sind ins Deutsche übersetzt.

 

Als ich wenige Jahre nach ihrem Tod ihr Werk las, war ich zunächst vor allem von den Naturschilderungen berührt, die eng mit der Atmosphäre der Gestalten und Geschichten verbunden sind, von diesem fast “Einswerden“ mit der Natur. Ob es diese archaisch-magische Natur gab? Im heutigen Wallis? Ich machte mich auf Spurensuche und erwanderte und besuchte die meisten ihrer Lebensorte, die oft mit den in ihrem Werk beschriebenen Lokalitäten und Landschaften übereinstimmen und tatsächlich manchmal noch (fast) die gleiche Atmosphäre ausstrahlen, wie sie auf so faszinierende Weise von ihr geschildert wird. Vor allem trifft das zu auf das Val d’Anniviers. Der Roman “Venusschuh“ z.B. kann fast als Wanderführer dienen. Ich war glücklich erstaunt, wenn ich beim Nachwandern immer wieder die Wege und Örtlichkeiten, die im Roman beschrieben werden, “leibhaftig“ vor Augen hatte (für meine späteren Übersetzungen war mir das eine willkommene Hilfe).

Daraus ergab sich ganz von selbst das Bedürfnis, mehr über die Schriftstellerin selbst, ihr Leben und ihre Lebenswahrnehmung zu erfahren, denn nicht nur Gegenden, sondern auch ihr Leben schien sich im Werk zu spiegeln. Ich erforschte, mit Erlaubnis ihres Witwers Maurice Chappaz, den Nachlass, der im Literaturarchiv in Bern in vielen Schachteln aufbewahrt wird. Ein großer Teil besteht aus Notizen, die sie für ihre künftige Autobiographie “Mein wahres Lebensmärchen“ gesammelt hat. Zur Ausarbeitung der Notizen ist sie nicht mehr gekommen, aber “Mein ganzes Leben steht schon auf Papierfetzen“, hat sie ihrem Mann auf dem Totenbett gesagt. In diesem an Umfang, Vielfalt, Buntheit überwältigenden Material, in all den “Papierfetzen“, Heften, “Traumbüchern”, Briefen, Tagebüchern fand ich tatsächlich ihr – äußeres und inneres – Leben dargestellt: das Leben einer vom Schreiben “besessenen” Autorin – “Ich bin schrecklich glücklich über das Schreiben. Das ist die Magie meines Lebens“ – oder später – “Ich habe viele Schwierigkeiten erlebt, ich hatte Kinder, Haushalt, Geldsorgen. Mir fehlte die Zeit… Aber ich habe immer geschrieben. Manchmal schien es mir, ich gehe auf einem Hochseil, die Balancierstange: mein Glaube an mein Schreiben. Ich würde sterben, wenn ich nicht schreiben könnte“ – und das Leben einer Hausfrau und Mutter – “Meine Hände waren schwarz von der Kirschkonfitüre, die ich gemacht habe“ und – “Unter einem Arm hatte ich ein Buch oder Notizheft, auf dem anderen ein Baby“; ein Leben, das “allerhand Interessantes” zu bieten hat – “Deshalb habe ich beschlossen, mein Leben durchzugehen und mein Leben und das meiner Lieben aufzuschreiben. Damit ein wenig von seinem starken, köstlichen Geschmack bleiben möge“; ein Leben, das nie geradlinig verläuft, in dem Glücksäußerungen und Verzweiflung unmittelbar aufeinander treffen können – “Trübsinn, Trübsinn, Trübsinn. Ist das schon die dunkle Nacht? – Nein, es geht wieder gut“ oder: “Leiden in jeder Hinsicht. Schaffe ich es noch einmal? – Die Ruhe ist wieder da“; ein Leben, das farbig und grau ist, ehrgeizig und verzweifelt, das einen anrühren und auch verstören kann – “Einmal ging ich jene seltsame, tödliche Wette ein: für das Gelingen eines einzigen schönen Buches gäbe ich das Glück der Liebe her“; ein Leben mit Höhen und Tiefen, mit Widersprüchen und Paradoxen, Umwegen und Abgründen – “Der Akt des Schreibens ist das Äquivalent des Liebesaktes. Ein Mord manchmal auch. Es gibt Mörder, Säufer und Brandstifter in meinen Geschichten. Und merkwürdigerweise tragen sie zur Konstruktion meiner selbst bei. […] Durch das Schreiben habe ich alle die Ungeheuer, alle Möglichkeiten zum Laster, die ich in mir habe, exorzisiert.“

Es ist fraglich, ob sie, auch wenn sie noch Zeit und Gelegenheit dazu gehabt hätte, aus all diesen Notizen tatsächlich ihre Autobiographie zusammengestellt hätte. 1979 sagt sie: “Ich werde bald eine Reihe von autobiographischen Romanen in Angriff nehmen (oder einen einzigen), denn ich glaube, dass ich allerhand Interessantes aus meinem Leben zu erzählen habe. Aber das ist ein höchst schwieriges Unterfangen, denn ich habe schon immer gern erfunden oder Wirklichkeit und Fantasie vermischt. Und hierbei handelt es sich ja um etwas anderes; auf keinen Fall soll es ein Text im Sinn von “Memoiren” werden. Bestimmt nicht. Ich möchte frei bleiben und nicht von der Sorge um Genauigkeit blockiert werden. Und überhaupt: kann man denn vollkommen wahrheitsgetreu sein?“

Vielleicht wird nach diesem Jubiläumsjahr “in Erfüllung gehen“, was sich Maurice Chappaz gewünscht hat: “Und andere werden sie lieben, […] Verwandte und Unbekannte und werden von diesem wunderbaren verletzlichen Leben gepackt sein“, und vor allem ihr vielfältiges Werk lesen und wiederlesen. Die Romane und Novellen sind zunächst in einem archaisch-naturmagischen Wallis mit bitterarmen, unglücklichen oder verbrecherischen bäuerlichen Bewohnern angesiedelt – weswegen Corinna Bille auch zeitweise in die Ecke einer Walliser Heimatdichterin gestellt wurde. Dieser Motivbestand wird bald ergänzt durch fantastische, surrealistische Traumelemente, die zuweilen überwiegen können. Vor welche Probleme stellt Corinna Bille die Übersetzerin? Manche Wörter (vor allem aus dem Gebiet der bäuerlichen Arbeit, Beispiel: “versannes“, eine verschwundene Technik im Rebbau) findet man in keinem Wörterbuch, aber schwieriger als die Semantik einzelner Wörter kann der Satzbau sein. Auffallend häufig beginnt sie die Sätze mit “und“ oder “aber“, was im Französischen an die mündliche Sprache anklingt, im Deutschen aber zu getragen und balladenhaft wirken würde und daher behutsam an den deutschen Gebrauch in erzählender Prosa angeglichen werden muss. Ein erhebliches Problem sind ferner die langen Perioden, in denen sich eine Apposition an die andere fügt. Hier muss ich, ohne mich allzu sehr vom Original zu entfernen, eine Syntax finden, die das deutsche Sprachgefühl nicht überfordert. Eine vertrackte Schwierigkeit sind Corinna Billes Zeitensprünge, d.h. ihre unübliche Behandlung der aufeinander folgenden Tempusformen. Dies kann nicht immer eins zu eins übertragen werden, andererseits muss aber auch die Neigung zum Tempussprung in der Übersetzung erkennbar bleiben. Häufig sind Wortspiele (“ici dort“ – Isidor) und Binnenreime (z.B. ils se regardent – ils se gardent) oder Homonyme, die oft nicht an der gleichen Stelle übernommen, manchmal aber an anderem Ort nachgeahmt werden können. Hilfreich ist das laute Vorlesen.

Corinna Bille hat ihre Texte jeweils mehrfach sorgfältig überarbeitet: “Daneben mache ich über alles viele Aufzeichnungen. Handschriftlich. Der erste Entwurf geht mir frei von der Hand. Dann muss ich noch viel daran arbeiten. Ein Buch wird bis zu dreimal geschrieben“ oder “Ich muss ein Buch fertig stellen, und diese Arbeit mag ich am wenigsten gern. Das erste Hervorsprudeln hingegen…“. Bei ihrem ersten Roman “Theoda“ bittet sie die zu dieser Zeit neu gewonnenen Dichter- und Schriftstellerfreunde um Hilfe:“ B[orgeaud] verwies auf einen Fehler in meinem Schreiben, den ich gemacht und überhaupt nicht bemerkt hatte: der vulgäre, gewöhnliche Ton, der den Zauber des Übrigen zerstöre. Meine proletarische Seite. Eine Sprache zu nah an der gesprochenen. Zu direkt. Zu drastisch“. Der ehemalige Lehrer am Kollegium St-Maurice Alexis Peiry hingegen schätzt, wie sie in einem Brief an die Mutter schreibt, ihre “direkte Sprache. […] Er ist auch überrascht, dass meine Technik (auch ein Ausdruck von ihm) ohne Latein etc. so gut ist.“

Schon 1942 sagt sie: “Ich habe das Bedürfnis, eine neue Stimme zu hören, oder selbst eine zu finden. Jemand müsste uns jetzt unbedingt etwas völlig neues geben […]. Ich brauche Schärfe. Ich brauche Schreie. Ich möchte die Schärfe des Lebens wiedergeben, das Drama des Lebens, das Lächerliche des Dramas. Das ist das Richtige für mich. Das einzig Wahre. Deshalb werde ich immer das Verbrechen verwenden.[…] Ich möchte alles zerstören und mit neuen Worten schaffen.“

Ihre für die Autobiographie vorgesehenen Notizen entsprechen dem “ersten Hervorsprudeln“. Sie sind, außer dem ersten Kindheitskapitel, nicht überarbeitet, oft flüchtig und schwer leserlich auf irgendein Stück Papier hingeschrieben, lassen aber auch in dieser Form die “Leidenschaft“, die das Schreiben für sie bedeutet, “das gebieterische Schreibbedürfnis“, spüren.

Auf dem Totenbett sagte sie: “Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich bin nur ein bisschen ärgerlich wegen meiner Manuskripte, die noch nicht fertig sind“ und “Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe einige Bücher, die sozusagen geschrieben, aber noch nicht ganz fertig sind. Wenn ich die zu Ende bringen könnte, würde ich völlig zufrieden sterben.“