Euregio

Die Euregio liest

Schüler-Literaturpreis

Vorstellung des Buchs  Was uns kostbar ist von Kahouter Adimi, Lenos Verlag Basel, 

in Aachen am 8.2.2023 vor einem kleinen, aber interessierten Publikum

 

In diesem Roman geht es um Bücher und ums Lesen, er ist ein “Hohelied“ des Lesens, wie ein Rezensent sagte. Wir lernen eine reale Person kennen, den legendären Verleger und Camus-Entdecker Edmond Charlot, der mit 21 Jahren in Algier eine Buchhandlung, Leihbibliothek und einen Verlag gegründet hat.

Wir lernen ihn kennen anhand eines Tagebuchs, das sich Kahouter Adimi ausgedacht hat – nach gründlichen Forschungen in Briefen und Archiven, Gesprächen mit Menschen, die ihn noch gekannt haben, aufgezeichneten Interviews usw.

Dieser Edmond Charlot, 1915 in Algier geboren – sein Urgroßvater war 1830 als Marinebäcker bei der französischen Flotte in Algier gelandet – sei ein schwieriger Schüler gewesen, “Immer den Kopf in den Wolken“, wie sein Lehrer an der Jesuitenschule von ihm gesagt hatte. Das Schicksal dieser interessanten Persönlichkeit ist eingebettet in die Kolonialgeschichte Algeriens und eine Rahmenhandlung, von der zunächst die Rede sein soll.

Wir befinden uns in den Jahren 2015, 2017, in der Zeit, in der Adimi den Roman geschrieben hat, in Algier, in der rue Hamani (in der Kolonialzeit hieß sie rue Charrat). Es ist eine Art “bleierne“ Zeit, noch regiert Bouteflika, die gedrückte Atmosphäre wird in einigen “Genrebildern“ spürbar (ein Versammlungsort, an dem sich junge Leute heimlich zum Gedichteschreiben, zum Rauchen, zum Lesen treffen; ein Café, in dem alte Männer über die schlechten wirtschaftlichen und sozialen Zustände räsonieren; ein gastfreundlichen Privathaushalt; ein graues Auto, von dem aus alles beobachtet wird).

Die in dieser Straße 1936 von dem jungen Edmond Charlot mit großem Enthusiasmus gegründete Buchhandlung, ein nach wie vor beliebter, wenn inzwischen auch wenig besuchter Ort, ist verkauft worden; ein Geschäft, in dem beignetsverkauft werden, soll daraus werden. Bereits ist ein Student aus Paris, Ryad, eingetroffen, der sie im Rahmen eines Praktikums ausräumen und frisch streichen soll. Das hat sich schnell in der Straße herumgesprochen. Als er in den Gemischtwarenladen in der Nähe geht und Farbe kaufen will, heißt es:

“»Guten Tag Habibi, kann ich dir helfen?«

»Ja, ich möchte Farbe kaufen. Hast du welche?«

»O nein, mein Freund! Die findest du nicht so leicht, musst du wissen.«

»Ach ja?«

»Ja! In der ganzen Stadt herrscht Farbmangel.«

»Seit wann?«

»Seit gestern.«“

 

Oder – er geht in eine Bäckerei.

“»Guten Tag, könnte ich bitte…«

»Ich verkaufe keine Farbe.«

»Bitte?«

»Was möchten Sie?«

»Nun… ein Croissant (…). “

Vor der Buchhandlung sieht Ryad einen alten, auf einen Stock gestützten Mann stehen, der ein weißes Tuch um sich geschlungen hat, Abdallah. Durch ihn erfahren wir indirekt von der Geschichte Algiers. Ryad kommt mit ihm ins Gespräch. Es ist der frühere Buchhändler. Zwei völlig verschiedene Charaktere, beide lesen nicht gerne, aber aus unterschiedlichen Gründen. Adallah hat überhaupt erst spät das Lesen gelernt – während der Kolonialzeit gab es für Araber wie ihn keine Schulen; trotzdem hat er sich in der Buchhandlung wohl gefühlt und war gern von Bücher umgeben:

“Lange musste ich gegen mich selbst kämpfen, um nicht mehr von gedruckten Wörtern eingeschüchtert zu werden. Vielleicht ist für Leute wie mich das Lesen nichts Natürliches. Ein Buch kann man berühren, fühlen. Man darf keine Hemmung haben, Eselsohren zu machen, es wegzulegen, wieder darauf zurückzukommen, es unter dem Kopfkissen zu verstecken… Das kann ich nicht. Noch heute ist mein erster Reflex beim Anblick eines Buches, es einzuordnen.«“

Der in Paris großgewordene Ryad, der Ingenieursstudent, hingegen kann mit Büchern ganz allgemein nichts anfangen. Abdallah fragt ihn einmal:

 “»Liest du gern?«

»Nein… Weißt du, Bücher und ich…«

»Wie – Bücher und du, was denn?«

»Wir mögen uns nicht besonders.«

»Die Bücher mögen jeden, Dummkopf.«

»Dann bin ich es, der sie nicht mag.«“

Ryad räumt also die Buchhandlung aus.

Abdallah fragt:

»Und womit beschäftigst du dich?«

»Ich muss die Buchhandlung räumen und die Wände streichen.«

»Warum?«

»Das ist meine Arbeit.«

»Eine Buchhandlung zerstören soll Arbeit sein?«

»Es ist ein Praktikum.«

»Ein Praktikum? Du willst Buchhandlungszerstörer werden? Ist das dein Beruf?«

»Nein, Ingenieur.«

»Ingenieure sollen aufbauen, nicht abbauen.«

»Ich muss ein Arbeitspraktikum machen.«

»Bist du Ingenieur oder Arbeiter?«

»Ich muss ein handwerkliches Praktikum machen, damit mir mein Jahr Ingenieurswesen anerkannt wird. Ich räume hier alles aus, streiche die Wände und gehe wieder. Ohne nachzudenken.«

»Du gehst in eine Buchhandlung, damit du nicht nachdenken musst?«

»Ich muss sie ja nur räumen, nicht die Bücher lesen.«

»An welcher Universität lernt man denn so etwas?«

»In Paris.«

»Pfff… Jetzt schickt man uns schon Abbrucharbeiter aus Frankreich. »Arbeiter-Ingenieure«, also wirklich! Die von hier sind wohl nicht gut genug! Ihr jungen Leute könnt nur kaputtmachen.«

»Wir jungen Leute, wir jungen Leute…«

»Bitte?«

»Nichts, ›wir jungen Leute‹, nichts weiter. Wir tun das, was wir können, mit dem, was ihr uns hinterlassen habt.«

»Wer schickt dich?«

»Niemand. Ich habe diese Arbeit angenommen. Mir ist kalt. Wir sollten hinein.«

»Es ist nicht kalt, das ist es nur in deinem Kopf. Wer schickt dich, wer hat dir diese Arbeit gegeben? Wie heißt er?«

»Ich kenne ihn nicht, das ist einer, der kennt einen, und der hat meinem Vater davon erzählt.«

»Selbst zum Zerstören braucht man Vitamin B…. Pfff… Überall dasselbe: Vitamin B und Korruption. Überall! Vom Friedhofswärter bis an die Spitze des Staats.«“

Schließlich hat Ryad die ganze Einrichtung nach draußen verfrachtet.

“Vom Trottoir gegenüber starrt Abdallah betrübt auf sein Reich, das gerade im Regen ertrinkt, sein weißes Tuch über den Schultern“

Auch das große Porträt von Edmond Charlot, das in der Buchhandlung von der Decke herabhing, “ersäuft im Wasser Algiers.“

Das war quasi die Rahmenhandlung, bzw. einer der Handlungsstränge, der mit einer Pointe endet. So wie es eine Art Vorspann zum Roman gibt, in dem wir Leser und Leserinnen eingeladen werden, in die rue Hamani zu kommen, so gibt es auch eine Art Nachwort, aber das will ich jetzt nicht erzählen; wenn es auch kein Kriminalroman ist, ich will die Pointe nicht vorwegnehmen.

Der Hauptstrang besteht aus dem fiktiven Tagebuch Edmond Charlots.

Er hat, wie schon gesagt, als sehr junger Mann mit wenig finanziellen Mitteln Buchhandlung und Verlag gegründet. Der Raum der Buchhandlung sollte gleichzeitig ein Treffpunkt werden mit Bezug zum Mittelmeer: Schriftsteller und Leser aus allen Mittelmeerländern ohne Unterschied in Sprache oder Religion sollen kommen.

Das ist ihm auch gelungen und so wurde er zum Entdecker von Albert Camus und anderen Schriftstellern, die bei uns heute mehr oder weniger vergessen sind, Jean Amrouche z.B., der interessanterweise Kabyle und Christ war und in Paris studierte oder Emmanuel Roblès, ein französischer Schriftsteller spanischer Herkunft, in Algier lebend. An diesen Namen ist bereits festzustellen, dass er französische und arabische Schriftsteller verlegt hat, die arabischen haben aber alle – soweit ich das sehe – französisch geschrieben. (Es ist mir auch nicht klar geworden, ob Charlot arabisch gekonnt hat).

Dieser Traum der kollektiven Freundschaft hat sich dann zerschlagen, aber dazu kommen wir später.

Einen damals bereits bekannten Autor, den Provencalen Jean Giono, bittet er, den Namen einer seiner Erzählungen als Titel für seine Buchhandlung übernehmen zu dürfen »Die wahren Reichtümer«. Das Motto soll sein: »Junges, von Jungen, für Junge«. Klingt prätentiös, das ist uns bewusst, aber wir sind ja auch jung, und es wirkt wie eine Art Kriegserklärung gegen Algier, diese Stadt mit ihrem Konformismus! “

Ein “à propos“ zu unserem Abend– ein kleiner Eintrag aus dem Tagebuch:

“Auch heute wieder Kunden, die sich ausschließlich für die neuesten Literaturpreise interessieren. Ich versuchte, ihnen neue Autoren nahezubringen, schlug ihnen vor, L’Envers et l’EndroitLicht und Schatten von Camus zu kaufen, aber völlige Gleichgültigkeit. Ich rede von Literatur, sie antworten mit Erfolgsautoren!“

Er arbeitet weiter mit Enthusiasmus, oft am Ende seiner Kräfte.

Bei Kriegsausbruch wird er vorübergehend eingezogen. Nun kommen die wirklichen Probleme auf ihn zu, einmal mit der Zensur – nach dem Sieg der Deutschen über Frankreich 1940 gehörte Nordafrika zum Vichy-Regime –  und dann die Probleme mit dem Papiermangel. Darüber klagt er immer wieder verzweifelt. Ich muss tricksen, bitten, schreien, um Papier zu erhalten, oder: kein Papier mehr, keinen Faden zum Broschieren, keine Druckerei…

Aus diesem Grund rät er sogar Camus dazu, statt bei ihm (was natürlich wunderbar für ihn wäre) zu veröffentlichen, sich ein großes Haus in Paris zu suchen, Gallimard.

Auch daran sieht man, dass er offenbar kein großer Geschäftsmann, aber ein echter Freund war…

Für ein paar Wochen wird er sogar eingelocht:

Dank an Gertrude Stein, die es für klug hielt, in einem Gespräch im englischen Radio zu erklären: »Ich habe einen Verleger in Algier, sehr dynamisch und im Widerstand…«

Dazu  seinen Bericht:

“Drei Tage nach dem Erscheinen des Buchs kamen am frühen Morgen Polizisten (Vichy) und holten mich ab.  Höchst selbstzufrieden deklamierten sie: »Kraft unserer Befugnisse nehmen wir den Herrn Charlot, verdächtig, Gaullist und Sympathisant der Kommunisten zu sein, in Arrest.« Dann verhörten sie mich lange und fragten, wo Albert sei. »Albert? Oje, ich kenne mindestens ein Dutzend Alberts. Zum Beispiel Albert, den Schuster, der Ihnen die Schuhe besohlt wie kein Zweiter, oder Albert, der Sohn des Briefträgers, der ein Alkoholproblem hat, aber äußerst liebenswürdig ist.« Da befahlen sie mir, mit den Kindereien aufzuhören und ihnen zu sagen, wo sich Albert Camus befinde. »Ach so! Albert Camus! Ich weiß nicht, wo er ist, meine Herren. Ich weiß es wirklich nicht…«

Die Polizisten luden mich in ihren Wagen, sperrten mich im Barberousse ein.“

Gleich nach der Landung der Alliierten 1942 (britisch-amerikanische Invasion in Nordafrika) wird Charlots Verlag ein Sammelpunkt für viele französische Schriftsteller, die im besetzten Frankreich nicht schreiben und publizieren können. Er ist nun der “Herausgeber des freien Frankreich.“ 

Er gründet mit anderen zusammen die Zeitschrift “Die Arche“- L’Arche“, die die altehrwürdige NRF, die Nouvelle Revue Française – eine Zeitschrift für Literatur und Kritik – ersetzen soll (die bei Gallimard erscheint, der mit den Deutschen kollaboriert und die dann nach dem Krieg auch kurzfristig verboten wird). Zur ersten Nummer der Archegratuliert General de Gaulle.

Nach der Befreiung Frankreichs 1944 fasst Charlot den Entschluss, eine Niederlassung seines Verlags in Paris zu gründen.

Natürlich hat er auch jetzt kein Kapital und muss eine bezahlbare Unterkunft für sich und seine Mitarbeiter finden. Die entsprechende Stelle muss ich Ihnen vorlesen:

“Der einzige Weg, viel Platz zu bekommen ohne sich zu ruinieren, ist, ein Bordell zu kaufen. Sie stehen alle zum Verkauf wegen der Lex Marthe Richard, das Gesetz hatte vor einigen Monaten die Prostitution verboten, was die Schließung dieser Etablissements zur Folge hatte. Und so laufe ich von Bordell zu Bordell auf der Suche nach einem Schnäppchen.“ Er findet schließlich eines, das berühmt für einen Kunden war: Apollinaire.

Im Frühjahr 1945 war es in Sétif, einer Stadt östlich von Algier und auch in anderen Städten zu Aufständen gekommen; das wird in einem der eingestreuten, von der Handlung unabhängigen Kapitel erzählt: die Eingeborenen, die für das Mutterland Frankreich gekämpft hatten, wollen gleichberechtigt an den Siegesfeiern teilnehmen und verlangen die Gleichstellung mit den Franzosen und die Unabhängigkeit Algeriens. Dieser Aufstand entwickelt sich zu einem Massaker.  Von nun an wird 9 Jahre lang der Aufstand organisiert.

Ähnliche Kapitel sind immer wieder in den Roman eingefügt, sie stellen die historische, soziale und politische Lage dar. Manchmal geraten sie etwas didaktisch, schulbuchmäßig. Sie sind fast immer im “kollektiven Plural“, in der ersten Person Plural, im “wir“ geschrieben. Das verleiht den sachlichen und meistens ja schrecklichen Berichten eine persönliche und dadurch eindringliche Dimension. Ich denke mir, dass mit diesem “wir“ oder “uns“ oft die Bewohner der rue Hamani, früher rue Charras gemeint sind, denen der Roman ja gewidmet ist. Auch in den dem Roman vorgestellten Mottos wird bereits auf die schlimme Geschichte hingewiesen: in El Biar, ein Vorort von Algier, befand sich ein Foltergefängnis der französischen Armee; im zweiten Motto sowie im “Vorspann“ zum Roman ist von den rot-, also blutgetränkten Terrassen und Straßen der Stadt, auf denen seit Jahrhunderten gemordet wird, die Rede. Dem kann man auch einen Hinweis entnehmen, dass die blutige Geschichte nie aufgearbeitet wurde.

Wir sind wieder bei Charlot, im Paris von 1945; die Probleme bleiben auch nach der Befreiung:

“Schwierigkeiten, Papier zu finden. Das hört also nie auf? Wird das zur Regel? Das ist ungerecht! Die Kontingente werden entsprechend der Vorkriegsproduktion zugewiesen, und wer vor der Ankunft der Deutschen nicht im Land ansässig war, kann schauen wo er bleibt. Alles für die großen Häuser, nichts für die anderen!“

Aber er hat Erfolg, der Verlag wird ausgebaut – im Jahr 1946 fast siebzig Werke heraus gebracht!, seine Autoren sind angesehen, bekommen Preise, aber: der Betrieb hält dem Erfolg nicht stand… je mehr gute Bücher wir herausbringen, umso schlechter wird die finanzielle Lage des Hauses. Von einem Kleinbetrieb bin ich zu einem Unternehmen geworden, das von Bestellungen nur so überhäuft wird – und von Schulden. Das raubt mir den Schlaf.

Damit nicht genug, “Die großen Verlagshäuser erholen sich gut vom Krieg und liefern uns einen wahren Verdrängungswettbewerb. Von ihrem hohen Ross schauen sie auf uns, die wir aus Algerien kommen, herunter, auf uns Hinterwäldler. Ich weiß, dass sie sich an meine Autoren heranmachen, sie hofieren, zum Essen einladen. Man verspricht ihnen goldene Berge. Und versichert ihnen, dass ich kurz vor dem Konkurs stünde.“

Die Vorhersagen der Konkurrenten bewahrheiten sich, die Gesellschafter der Edition Charlot, also seine Freunde, verlangen, dass er aus der Firma ausscheidet und nur ihr literarischer Berater bleibt. 1949 wird das Konkursverfahren eröffnet. Charlot: “Bitteres Pariser Abenteuer. Scheitern einer kollektiven Freundschaft. Eine Seite meines Lebens wurde soeben brutal umgewendet.“

Zurück in Algier eröffnet er im Mai trotz allem zusammen mit seinem Onkel in der Rue Michelet (später umbenannt in rue Didouche-Mourad) eine Buchhandlung [Les vraies richesses hatte er schon lange seinem Bruder übergeben] mit dem Namen Rivages. Rivages – Die Ufer oder Die Küsten – Hinter diesem Namen steckt sicherlich wieder Charlots “Mittelmeergedanke, der nicht an der Mole Algiers aufhören soll“, der Algerien mit den anderen Mittelmeerländern, vor allem mit Frankreich verbinden soll.

In Algerien beginnt indessen der Unabhängigkeitskrieg. Der Terror wütet. Kurz vor dem Ende wird Charlot 1961 zur Zielscheibe rechtsextremer Kolonialfranzosen, zwei Sprengstoffanschläge werden auf seine Buchhandlung Rivagesverübt, die man der OAS zuschreibt. (Terror-Organisation der Geheimarmee – Organisation de l’Armée Secrète, die gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen Algeriens kämpfte wie auch gegen die Franzosen, die die Unabhängigkeitskämpfer nicht länger militärisch bekämpfen wollten)

“16. September 1961

Meine Buchhandlung wurde völlig verwüstet. Ich habe alles, wirklich alles verloren: die Gutachten von Camus, meinen Briefwechsel mit Gide, Amrouche und anderen. Tausende Bücher, Dokumente, Fotos und Manuskripte weggefegt. Mein kostbares Archiv ist vernichtet! Die untere Etage in die Luft gejagt. Mir bleiben nur noch ein paar wenige Bücher und mein Notizheft. Ein ganzes Leben zu Schutt geworden. Ich bin am Boden. (…) Und Momo [Schriftsteller]… Momo, mein alter Freund, der inmitten der Trümmer… Momo, der Barde der Kasbah [Himoud Brahimi], Momo ist zu einem Besuch vorbeigekommen und hat mir ein Bündel Scheine in die Tasche gesteckt: all seine Ersparnisse.“

“Ich werde nie mehr die Kraft zu einem Neubeginn haben.“

Kurz darauf findet in Paris ein schreckliches Massaker an friedlich, wenn auch verbotenerweise demonstrierenden Algeriern statt; es wird in einem der eingestreuten Kapitel eindringlich geschildert.

Unter Leitung des Polizeichefs Papon werden tausende muslimische Franzosen algerischer Herkunft (die Pieds noirs) massakriert und in die Seine geworfen [Papon wurde dafür nie zur Verantwortung gezogen]. Ich muss gestehen, dass ich davon nichts wusste, aber das entspricht der offiziellen Politik: dieses Massaker wurde von der Politik wie auch von der Bevölkerung totgeschwiegen.

In diesem Sinn äußerst sich im Übrigen auch Annie Ernaux in “Die Jahre“: “Die Leute hatten genug von Algerien (…) man fand normal, dass die Oktoberrevolution erst verboten, dann blutig niedergeschlagen wurde, und vielleicht sogar, wenn man es überhaupt mitbekam, dass über hundert Demonstranten von Polizisten in die Seine geworfen wurden…  später schämte man sich für die eigene Ahnungslosigkeit, wenn auch die Regierung und die Zeitung alles dafür getan hatten…“

Erst der französische Staatspräsident François Hollande hat am 17. Oktober 2012 das Massaker anerkannt und verurteilt und 2021, am 60.Jahrestag, verurteilte Präsident Emmanuel Macron die Taten als unentschuldbar.

Mit diesem schrecklichen Jahr 1961 und der Zerstörung der Buchhandlung Rivages enden die Aufzeichnungen Edmonds Charlot. Der Roman findet seinen Abschluss im Jahr 2017 mit den Aufräumarbeiten der Buchhandlung Die wahren Reichtümer.

Ich schließe mit einem Zitat des belgischen Schriftstellers Simon Leys, das ich in einer Rezension gefunden habe, vielleicht kennen Sie hier diesen Autor?:

“Erfolgreiche Menschen sind diejenigen, die sich der Realität anpassen können. Diejenigen hingegen, die darauf bestehen, die Realität auf ihre Träume auszuweiten, scheitern. Und deshalb ist jeder menschliche Fortschritt letztlich den Menschen zu verdanken, die scheitern.«

Anmerkungen

Hinweis auf das Video, s. Wikipedia Edmond Charlot,

auf die Videos mit Kaouther Adimi,

auf das Nachwort in “Dezemberkids“,

https://www.dailymotion.com/video/xexd9f (Interview Charlot)

Name Algerien seit 1839 Bezeichnung der “französischen Besitzungen in Nordafrika“, damit wurde der traditionelle Name Berberei oder Berberstaaten ersetzt.

Motto: El Biar – Vorort Algiers, in der Villa des Tourelles befand sich während des Algerienkrieges ein Foltergefängnis der französischen Armee.

Zitat von

Frédéric Jacques Temple, geb. 1921, franz. Schriftsteller

Paysages lointains

Sur mon cheval

Motto: Jean Sénac, 1926-ermordet 1973, algerischer revolutionärer Dichter französischer Sprache

rue Hamani, frühere rue Charras:

Oberst Charras: gemässigter Republikaner, Teilnehmer an Napoleons Feldzug 1815 und Militärschriftsteller, 1848 Gouverneur in Algier.

Arezki Hamani: nach Auskunft (im Facebook) eines Algeriers wahrscheinlich ein linker Gewerkschaftsführer.

  1. 11 Edmond Charlot, geb. 1915 in Algier, gest. 2004 in Pézenas (Hérault); sein Urgrossvater war 1830 als Marinebäcker mit der französischen Flotte nach Algerien gekommen.

Buchhandlung und Verlag “Les vraies richesses“ in Algier, ab 1936

Niederlassung des Verlags in Paris, 1944/5-1949

Buchhandlung Rivages in Algier, 1950-1961

Zunächst (steht noch in seinen Aufzeichnungen im Roman) wird er Informationssendungen leiten und als Dramaturg arbeiten bei dem Radiosender France 5 Algier.

1965 Mit dem Titel Vizekonsul Leiter des franz. Kulturzentrums zuerst in Algier, dann in Izmir, Türkei

Von 1973-1980 Kulturattaché in Tanger

Seine Lebensgefährtin gründet die Buchhandlung Le haut quartier in Pézenas im Languedoc, wo er 2004 stirbt.

  1. 13, 14 Herausgeber, bzw. Zusammenarbeit mit: Albert Camus, Jean Sénac, Jules Roy, Jean Amrouche, Himoud Brahimi [Momo], Max-Pol Fouchet, Sauveur Galliéro, Emmanuel Roblès, Saint-Exupéry
  2. 15 Kabylei – Berggegend im Tell-Atlas an der Küste östlich von Algier. Kabylen. Berbersprache kabylisch. Die Kabylen sind Angehörige verschiedenerBerberstämmemit einheitlicher Sprache.

Demonstrationen im Jahr 2001 („Schwarzer Frühling“).

S.19 “schwarzes Jahrzehnt“ – der algerische Bürgerkrieg (1991 -2002), zwischen Regierung und islamistischen Gruppierungen. FIS-islamische Heilsfront

  1. 191 1961 Massaker in Paris

friedliche (verbotene) Demonstration zehntausender Algerier (FLN). De Gaulle erwähnt das Massaker in seiner Autobiographie nicht. 2012 bricht Hollande das Schweigen (“Tragödie“). 2021 legt Macron einen Kranz nieder und spricht von “unentschuldbaren Verbrechen“.

400 000 Algerier leben in Frankreich, “muslimische Franzosen aus Algerien“.

  1. 23 Unabhängigkeit: 1962 nach dem Ende des Algerienkriegs, unter Führung der Nationalen Befreiungsfront –FLN- Front de Libération Nationale

[de Gaulle hatte 1942 im Exil das Londoner Komitee „Freies Frankreich“ gegründet und zum Widerstand gegen das Vichy-Regime aufgerufen]

S.25 Barbareskenküsten– nach Ansicht der Kolonisten gab es vor der Landung 1830 keine Kultur dort.

barbaresque: Im 16. bis zum 19.Jh. wurden das Sultanat Marokko, die osmanischen Regentschaften Algier, Tunis und Tripolis als Barbareskenstaaten bezeichnet; sie lebten zu einem beträchtlichen Teil von der Piraterie (Lösegeld für Menschenraub, Sklavenhandel) gegen die christlich-abendländischen Staaten (bis zur Eroberung Algeriens durch Frankreich).

S.26 Code de l’indigénat – 1875 – Sammlung von Dekreten. Er unterwarf die „Eingeborenen“ (französisch indigènes) als französische „Untertanen“ (sujets) im Unterschied zu den Verwaltungsangehörigen und europäischen Siedlern, die als französische „Staatsbürger“ (citoyens) galten. – bis in die fünfziger Jahre.

  1. 31 Algérianist –Algerianismus, vor allem literarische Bewegung: “Algerien für Algerier“, d.h. aber nicht für die Eingeborenen, sondern für die Kolonisten; Algerien soll in der Zukunft ein franko-berberisches Land mit französischer Sprache und Kultur werden.
  2. 37 Theaterstück “Révolte dans les Asturies“, von Schauspielschülern und hauptsächlich Camus geschrieben; verboten, von Charlot gedruckt
  3. 40 Jean Giono, 1895-1970, Les vraies richesses. Grasset, Paris 1936

(Vom wahren Reichtum. Aus dem Französischen übersetzt von Ruth und Walter Gerull-Kardas. Mit 112 Photos von Gerull-Kardas. Büchergilde Gutenberg, Zürich/Wien/Prag 1937; Zürich: Arche 1958)

  1. 96 Gertrude Stein, 1874-1946, amerikanische Schriftstellerin, lebte in Paris

Paris-France

  1. 103 Landung – 1940 britisch-amerikanische Invasion in Nordafrika

S.124 Der Begriff Zaouia oder Zawiya (arabisch زاوية, DMG zāwiya; deutsch: „Ecke“) bezeichnet in den Maghreb Staaten MarokkoAlgerienTunesienLibyen und Mauretanien eine religiöse, im weitesten Sinne dem Sufismus nahestehende, Bruderschaft.

  1. 127 Als Massaker von Sétifbezeichnet die blutige Niederschlagung von Unruhen ab dem 8. Mai1945 in den algerischen Orten SétifGuelma und Kherrata durch französisches Militär und Milizen. – bis 22.5.

Die Demonstranten forderten Gleichheit, Unabhängigkeit und „Algerien den Arabern“. 

Über 100 französische Siedler fielen der Erhebung zum Opfer.

Die Kolonialfranzosen bildeten daraufhin mit Billigung der Behörden Selbstverteidigungsmilizen, die Racheakte verübten. 

In der heutigen Geschichtsschreibung besteht auf französischer wie auf algerischer Seite Einigkeit darin, den 8. Mai 1945 als einen Ausgangspunkt für den 1954 ausbrechenden Algerienkrieg anzusehen.

  1. 131 Raymond Duval(18941955), franz. General, schlug den Aufstand in Sétif nieder.
  2. 127 Künftige Helden der arabischen Revolution: Ben Bella, Muhammed Boudiaf, Krim Belkassem, Larbi Ben M’hidi

S.130 Paul Tubert, 1886-1971, franz. Politiker, Widerstandskämpfer, wird 1945 von de Gaulle nach Algerien entsandt, aber gleich wieder abberufen.“L’Algérie vivra française et heureuse. 1946“- (Algerien wird französisch und glücklich leben) bei Charlot erschienen. S. 131 Boumedienne, Präsident von 1965-1978 (war bei den Massakern in Sétif als Kind dabei)

  1. 161 kesra – Fladenbrot, S. 162 Bismillah – Im Namen Gottes
  2. 169 les Ultras =die Franzosen
  3. 170 OAS – Organisation de l’armée secrète, Geheimarmee. Die OAS wurde im Februar 1961von Offizieren und Generälen gegründet, die den StatusAlgeriens als Bestandteil des französischen Mutterlandes mit militärischen Mitteln erhalten wollten. TerrororganisationS. 173 Als Manifeste der 121 bezeichnet man in Frankreich ein Manifest, das am 6. September 1960 mit dem Titel « Déclaration sur le droit à l’insoumission dans la guerre d’Algérie » (Deklaration über das Recht zur Dienstpflichtverweigerung im Algerienkrieg) in der Zeitschrift Vérité-Liberté erschien. 121 Intellektuelle, Universitätsangehörige und Künstler hatten es unterzeichnet. Ein Teil von ihnen wurde daraufhin aus öffentlichen und staatlichen Anstellungsverhältnissen entlassen, gegen 29 von ihnen wurde Anklage erhoben.
  4. 187 FLN – Front de Libération Nationale – Nationale Befreiungsfront
  5. 192 CRS – Compagnies Républicaines de Sécurité, franz. Bereitschaftspolizei
  6. 192 FPA – Forces de police auxiliaires (Hilfspolizei) = Harkis (Muslime) de Paris
  7. 192 Maurice Papon (1910-2007), Politiker, Nazi-Kollaborateur, wird 1958 von de Gaulle zum Polizeipräfekten von Paris ernannt, war einfranzösischer Politiker,NaziKollaborateur und Kriegsverbrecher. Polizeipräfekt von Paris zur Zeit der Massaker. 1978 bis 1981 französischer Finanzminister. Wurde nie zur Verantwortung gezogen (angeklagt wegen Nazi-Verbrechen)

 

Simon Leys (mit richtigem Namen Pierre Ryckmans; * 28. September 1935 in Brüssel; † 11. August 2014 in Canberra[1]) war ein belgischer Sinologe und ein politischer SchriftstellerEssayist und Übersetzer. Er schrieb Französisch und Englisch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf dem Weg zu einem Dorf, das es nicht mehr gibt – Maurice Zermatten: A l’Est du Grand-Couloir

Auf dem Weg zu einem Dorf, das es nicht mehr gibt – Maurice Zermatten: A l’Est du Grand-Couloir.

Im Jahr 1930 – ich kenne Leute, die in diesem Jahr geboren sind und die noch leben, es ist also nicht so lange her – wurde ein Dorf, und zwar in der Schweiz, im Wallis, geschleift; die 56 Menschen, die dort gewohnt hatten, mussten sich irgendwo im Tal ein neues Leben aufbauen. Nicht alle haben das geschafft. Der Grund für ihre Vertreibung: die reichen Bauern unten im Tal (jedenfalls waren sie reicher als die bitterarmen Menschen oben) hatten aus ihren Weiden Weinberge und Obstplantagen gemacht und brauchten neues Weideland für ihre Kühe. Auf die der Sonne zugewandte kleine Hochebene weit oben (1313m) hatten sie seit langem ein Auge geworfen. Mit Hilfe der Obrigkeit und der Kirche ist es ihnen gelungen, sie zu erwerben. Man muss allerdings zugeben, dass dieses kleine abgelegene, im Winter durch Lawinen unzugängliche Dorf – Randonnaz, im Roman Zampé – keine Zukunft mehr hatte – die meisten der jungen Leute hatten es bereits verlassen, für die zurückgebliebenen Alten und Kranken gab es keine Perspektive.

Trotzdem: Ich werde dir etwas sagen, Herr Lehrer: Zampé bedeutet nicht nur Häuser, Scheunen, Speicher, Wiesen, Gärten und Felder. Nicht nur Gras und Roggen. Nicht nur das Vieh, das wir großziehen und das uns das Leben ermöglicht. Das alles könnten wir, das weiß ich, auch woanders finden. Was wir aber woanders nicht finden könnten, das ist die Luft von Zampé, der Frieden von Zampé, der Himmel von Zampé und unter der Erde die Wurzeln unseres Lebens.

Die Geschichte dieses Dorfs hat Maurice Zermatten in dem Roman “A l’Est du Grand Couloir“ aufgeschrieben; die Fakten stimmen, bei den Schicksalen der Menschen hat er sich sicherlich manch dichterische Freiheit erlaubt. 2006 las ich eine Besprechung dieses Romans samt Wanderbeschreibung in dem Band “Dies Land ist maßlos und ist sanft. Literarische Wanderungen im Wallis“, Rotpunktverlag, unter dem Titel: “Seither wächst hier nur noch Gras“ [Roland Gysin]. Es hat dann 11 Jahre gedauert, ehe ich mich auf den Weg in dieses “Dorf“ machte; nur vom Zug aus, zwischen Fully und Saillon, hatte ich immer wieder vergeblich versucht, den Grand-Couloir zu erkennen (inzwischen hatte ich den Roman übersetzt).

Anders als in dem Wanderführer vorgeschlagen, suchte ich mir den Weg, wie er vom Erzähler des Romans beschrieben wird. Dieser, ein älterer Mann, hat zufällig in einem Kanal im Tal die Leiche eines Selbstmörders entdeckt; in ihm, einem alten Mann, erkennt er den jungen Burschen, den er als Kind gekannt hat. Vor Jahren hatte er einmal einen Winter mit seinem Vater, der vorübergehend im Dorf Lehrer war, dort oben im Dorf verbracht. Nun werden Erinnerungen wach, und er will wieder einmal hinauf; in Begleitung der Schwester des Verstorbenen, Marthe, macht er sich auf den beschwerlichen Weg, seine Erinnerungen an den Ort (er weiß, dass er nicht mehr existiert) und an die Bewohner werden lebendig bei Marthes Erzählungen.

Nun also. Ein heißer Septembertag. Ich suche den Aufstieg in Mazembroz, östlich von Fully. Die Wegbeschreibung im Roman klingt ja anstrengend, aber da eine junge Frau mit Kinderwagen, die ich nach dem Abzweig frage, ihn mir ohne weiteres zeigt und sich offenbar nicht wundert, dass eine alte Frau den Aufstieg wagen will, bin ich beruhigt (die junge Frau war aber unter Garantie diesen Weg nie gegangen) und folge dem gelben Wanderwegweiser. Zuerst ein schattiges Wäldchen, Föhren, Kastanien, Ahorn, ein flacher, idyllisch in der Sonne liegender Fels voll Hauswurz und Thymian, dann aber beginnt die Steigung. Und irgendwann kommt in solchen Situationen der Moment, an dem man dann auch nicht mehr zurück will… Der Weg führt zu einer steilen Felswand, und nun galt es, sich am Fels an Drahtseilen einige hundert Meter entlang zu hangeln. Bei Zermatten: Er sah das Maultier vor sich, das ruckartig voranging, mit gestrecktem Hals die Steilhänge erstürmte, dann wieder Atem schöpfte. Das Gepäck schwankte auf dem Packsattel. (…)

Der Weg ging nun jäh wieder bergan. Er führte in engem Zickzack den steilen Hang hinauf, so abrupt, dass Jean Roduit auf der Höhe des Gepäcks gehen musste, das er mit hochgehobener Hand im Gleichgewicht hielt. Das Maultier hielt an, holte Schwung, hielt wieder an. Vater hatte gesagt: ›Da verstehe ich, dass bei Schnee kein Mensch hier gehen kann…‹

Mir unvorstellbar, wie der Auszug der Dorfbewohner auf diesem Weg mit Maultieren und Gepäck stattgefunden haben kann (ob es doch noch einen anderen, wenn auch viel weiteren Weg gibt? s. die zwei Anmerkungen). Der Erzähler:

Nachdem ich nun die Gegenden wiedergesehen habe, kann ich mir diesen Exodus, der einen Monat lang gedauert hat, vorstellen, das Treiben der Männer und Frauen um Martins Schlittenkarren herum, die Pannen, das Durcheinander schlecht befestigter Möbelstücke, die Bündel, die sich auflösen und kaputt gehen, der alte Schrank, der auseinanderfällt, die Betten, die ächzen, die wurmstichigen Bettsäulen, die bersten. Karawanen, die sich stöhnend im Morgengrauen hastig in Bewegung setzen und über die Brücke über den Grand-Couloir holpern, ächzen bei den Steigungen, durcheinander geraten beim Abstieg.

Ganz schwach ist im unteren Teil der Zickzackweg zu erkennen.

Foto aus: Fully Tourisme. Beudon

Am Fels entlang stieg der Weg noch nicht sehr an, aber dann… Das Weglein zwischen Berg und Gebüsch war sandig, ich rutschte immer wieder zurück und zog mich zwischendurch an Grasbüscheln hinauf. Endlich wurde es wieder fast eben, in den Bäumen und Sträuchern ahnte ich ein Haus, und schon hörte ich eine Stimme, sah aber niemanden. Dann entdeckte ich etwas unterhalb des Wegs hinter Gebüsch eine Frau an einem Holztisch, die mich zu sich in den Schatten einlud. Von ihr erfuhr ich, dass ich keineswegs in Sand gerutscht war, sondern in Löss, und das ist der fruchtbare Boden, auf dem ihr so hoch gelegener Weinberg gedeiht. Ich war in der Domaine de Beudon, einem Bio- Weingut. Auch diese Frau wunderte sich nicht, dass ich auf diesem Weg gekommen war (ich war fast enttäuscht…) – das ist eben der Weg. Für das Weingut gibt es aber zum Glück einen Lastenaufzug.  Sie kennt den Roman. Später erfuhr ich, dass vor kurzer Zeit ihr Mann, der Winzer, beim Arbeiten in dem steilen Weinberg ums Leben gekommen war – sein Traktor war umgekippt und hatte ihn unter sich begraben.

Nach der Rast bei dieser sympathischen Frau geht es weiterhin steil bergan. Irgendwann zweigt ein Weglein ab, auf dem gelben Wegweiser steht “Moulin de Chiboz“, und ich sehe auch weiter unten ein kleines helles Gebäude, gehe diesen Umweg aber leider nicht; erst im Nachhinein fällt mir ein, dass diese Mühle mit ihren Legenden im Roman eine Rolle spielt. Fast ohne es zu bemerken, überquere ich ein trockenes Bachbett, es muss der gefürchtete “Grand Couloir“ sein – er hat seinen Schrecken verloren. Der Erzähler im Roman erlebte es, einige Jahrzehnte davor, noch anders:

Das Schauspiel war schrecklich und großartig. Eingezwängt zwischen steinigen Ufern rollte der Wildbach den Abgründen in wilder Raserei zu. Nichts als tönendes Aufwallen, Wüten von lauten Wellen, die die hohen vom Berg gestürzten Felsbrocken mit voller Wucht peitschten. Die Meute legte es darauf an, sie mit scharfen Zähnen zu zerbeißen; Geifer prallte herauf, stieg in die Luft; das ununterbrochene Schlagen des Wassers gegen diese Hindernisse erfüllte die Luft mit dumpfer Verzweiflung, strömte Entsetzen aus. (…) Marthe: Wir müssen noch ein wenig weiter hinunter. Ich kenne das Höllenloch (…)

Er hatte soeben verstanden, dass er, um in das Paradies von Zampé zu gelangen, über das Höllenloch springen musste…

 Der Weg geht jetzt, nur sanft steigend, durch Gebüsch weiter, stellenweise an einer hölzernen Wasserleite (oberhalb der Mühle) entlang,

der Wald hört auf, es geht über Wiesen, dann macht das Weglein eine Kehre und plötzlich – liegt die sonnenbeschienene Hochebene vor mir, an einer winzigen Kapelle (Bethäuschen – oratoire) erkenne ich sofort, dass ich “im Dorf“ angekommen bin. Nach körperlicher Anstrengung ist man ja oft besonders empfänglich für Gemütseindrücke –  ich war überwältigt und gerührt.

In dem Oratoire stehen auf einer Tafel die Namen der verjagten Familien. Die meisten tauchen auch im Roman auf.

Marthe erzählt die Schicksale dieser Menschen, zeigt die Stellen, wo die jeweiligen Häuser gestanden haben. Für das Weideland wurden sie im wahrsten Sinn geschleift, sorgfältig eingeebnet, damit sich die Kühe nicht verletzen konnten…

Aber nun wieder zu mir – wie weiter? Den gleichen Weg zurück, wie ursprünglich geplant, wollte ich auf keinen Fall gehen. Ich versuchte, dem Vorschlag aus dem Wanderführer zu folgen. Also ein Stück zurück über den “Wildbach“ in das gegenüberliegende Dorf Chiboz, das ausgestorben wirkte und, wie mir schien, überwiegend aus Ferienhäusern bestand, und hier dem Teersträßlein folgen. Bald hielt ein Auto neben mir, und eine Frau, die mich schon im Ort beobachtet hatte, lud mich zum Mitfahren ein. Auch sie hat den Roman gelesen. Was hätte ich ohne sie gemacht? Die Straße führte in endlosen (stundenlangen…) Serpentinen hinunter nach Fully.

Und dann kam irgendwann das Postauto zum Bahnhof Martigny… und während ich auf den Zug wartete, sah ich vom Bahnsteig aus plötzlich die Hochebene, von der ich kam, (nun leicht erkennbar an einem langgestreckten weißen Gebäude, dem neuen Stall) und winkte ihr zum Abschied noch einmal zu (oder winkte sie mir?).

Blick vom Zug aus: im rechten unteren Drittel sieht man die hellgrünen Weinberge von Beudon. Etwas links darüber im oberen Drittel ist ein langer weißer Strich (quer) zu sehen – der neue Stall der Alpage Randonne.

     

Randonnaz vor 1930 (aus dem Internet – Photothèque)

Anmerkung: Nachdem ich, nach meiner Wanderung, den Roman noch einmal gelesen und eine genaue Karte studiert habe, gab es wohl einen anderen Aufstieg nach Zampé (Randonnaz); da seit der Zeit der Erzählung eine Straße gebaut worden ist (Mitte der fünfziger Jahre), kann man diesen Weg nicht mehr genau nachvollziehen. Er ging wohl oberhalb von Fully, Vers l´Eglise [Grillesse] durch den Kastanienwald-Châtaignier nach Euloz oder Buitonnaz [Audes], über den Torrent d’Echerche [premier couloir] nach Chiboz d’en Bas [Crétouille], hier in das Gasthaus, “Relais des Chasses“ [Auberge des Chasseurs], über den Grand-Couloir, zur inzwischen wieder aufgebauten Mühle  und dann nach Randonnaz [Zampé].

Anmerkung 2: Und es gibt heutzutage folgende im Internet entdeckte Möglichkeit, die wir  (Rolf war dabei) am 9.8.2020 wahrgenommen haben: eine Navette fährt auf dem steilen Sträßchen mit vielen Haarnadelkurven leicht abenteuerlich nach Chiboz d’en Haut (und sogar noch weiter nach Erié) hinauf.

Auf diesem Ausflug habe ich nachgeholt, was ich beim ersten Mal versäumt hatte. Nachdem wir das Oratoire nicht gefunden hatten (im literarischen Wanderführer: ab dem Stall “gehen wir schnurgerade talwärts über die Weide“) – die “Weide“ war steil und äußerst struppig und kniehoch krautig überwachsen, das Oratoire nicht zu sehen, soll man nach links oder rechts? – haben wir nach mühseliger Kraxelei in der prallen Sonne aufgegeben, sahen es aber dann unmittelbar vor dem “Relais des Chasseurs“ (wo wir dann auch aßen) von Weitem wunderbar liegen.

Es ist wirklich kaum zu sehen: etwas links von der Weggabelung; wir waren glücklich, als wir es entdeckt hatten.

Nach dem Essen machte ich mich allein auf die Suche nach der Mühle; das Weglein ging steil und kurvenreich über Stock und Stein durch den Wald Richtung Grand-Couloir hinunter, war aber gut ausgeschildert. Ich kam dann an die Stelle, an der ich vor zwei Jahren von Beudon aus angekommen (rot-weiß) und nicht zur Mühle weitergegangen war.

Die Mühle wurde 1993/94 von einer Initiative wiederaufgebaut und zum Brotbacken verwendet, sieht aber sehr unbenutzt aus, der Elan hat offenbar nicht angehalten (oder es wird vielleicht nur im Frühjahr gebacken).

Auf meinem alten Weg ging ich weiter bis zur Überquerung des Grand-Couloir. Die sah dieses Mal etwas anders aus; offenbar war seit einem letzten Unwetter niemand mehr aufs andere Ufer gegangen. Da ich bereits ziemlich angestrengt war, wagte ich es nicht (in frischerem Zustand und wenn es nicht gar so heiß gewesen wäre, hätte ich es ohne Weiteres getan).

Wo der Weg aufhört, hätte man sich ca. 1 Meter irgendwie hinunterbewegen müssen und dann von Stein zu Stein springen. Auf dem anderen Ufer ging der Weg offenbar nach etwas Gestrüpp weiter.

Ich machte kehrt, kroch das steile Weglein mit vielen Pausen wieder hinauf und fand Rolf im Innern des Gasthauses vor, wo er “Randonnaz, Village disparu“ von Christophe Bolli las (es gab es an der Theke zu kaufen). Er fühlte sich aber, obwohl es innen etwas kühler war) unter all den Geweihen nicht wohl. (Dieses Wirtshaus wird unter dem Namen “Auberge des Chasseurs“ ausführlich im Roman beschrieben).

Wir waren froh, als wir bald mit der Navette wieder hinunterkonnten, sehr zufrieden und bester Laune.

Zum Abschluss noch der Blick ins Rhonetal von Chiboz-en-Haut aus.