Thomas Mann

Diese Dichter, Brentano und Novalis, spielen auch eine wichtige Rolle in Thomas Manns Roman “Doktor Faustus“.

Die Bilder zum Thema „Doktor Faustus – Doctor Fausti Weheklag“ sind für eine Ausstellung anlässlich der 5. Davoser Literaturtage 2002 entstanden. An ihnen möchte ich mein Verfahren, “Bilder zu schreiben“ erklären und aufzeigen, wie ich mich einigen Aspekten in Thomas Manns Spätwerk „Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ (geschrieben 1943-1947) mit meiner Art einer visuellen Interpretation zu nähern versuche. Ich fasse sie in sechs Themen zusammen:

  1. Begegnung mit der glorreichen Kultur des deutschen Kunstlieds
  2. Die lyrische Vermählung der Musik mit dem Wort
  3. Die schöpferisch träumende Natur träumt hier und dort dasselbe – die Chiffernschrift der Natur und wunderliche Figuren
  4. Das „magische Quadrat“ von Dürers Melencolia-Stich – Das stimmige Zahlenquadrat
  5. Der strenge Satz – Doctor Fausti Weheklag
  6. Die Musik ist die Zweideutigkeit als System

Das “magische Quadrat“, die „tabula Jovis“, evoziert das spätmittelalterlich-humanistische Gedankengut von Dürer und der Reformationszeit sowie die magisch-biblische Sphäre des Volksbuchs vom Doctor Faust. Darüber hinaus wird neben den musikalischen Kompositionen Adrian Leverkühns auch die Romankomposition von Thomas Mann – Serenus Zeitblom von ihm beeinflusst.

Die Themen im Einzelnen, wie sie sich in Serenus Zeitbloms Schilderung der menschlichen und künstlerischen Entwicklung seines Freundes Adrian Leverkühns zeigen :


1. Begegnung mit der glorreichen Kultur des deutschen Kunstlieds –

“das unabwendbare Einsamkeitsverhängnis“

Der Schüler Adrian Leverkühn ist vom deutschen Kunstlied, von den von Schumann vertonten Eichendorff-Liedern sowie vor allem  vom Zyklus “Die   Winterreise“ von Müller/Schubert beeindruckt:

“In diese Zeit fiel Adrians erste Bekanntschaft mit der glorreichen Kultur des deutschen Kunstlieds… Eine herrliche Begegnung!… Eine Perle und ein Mirakel wie Schumanns Mondnacht und die liebliche Sensitivität ihrer Sekundenbegleitung… Schuberts immer zwielichtiges, vom Tode berührtes Genie aber suchte er dort mit Vorliebe auf, wo es einem gewissen nur halb definierten, aber unabwendbaren Einsamkeitsverhängnis zu höchstem Ausdruck verhilft, wie in jenem ‚Was vermeid ich denn die Wege, wo die andern Wandrer gehen‘ aus der ‚Winterreise‘, mit dem allerdings ins Herz schneidenden Strophenbeginn: ‚Habe ja doch nichts begangen, dass ich Menschen sollte scheu’n‘ -. Diese Worte habe ich ihn, nebst den anschließenden: ‚Welch ein törichtes Verlangen Treibt mich in die Wüstenei’n?‘, die melodische Diktion andeutend, vor sich hinsprechen hören und dabei, zu meiner unvergessenen Bestürzung, Tränen in seine Augen treten sehen.“

Winterreise
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Wilhelm Müller/Franz Schubert: Die Winterreise


Vier ernste Gesänge

Brahms: Vier ernste Gesänge

“Bei Brahms, dem Liederkomponisten, schätzte mein Freund über alles die eigentümlich strenge und neue Stilgebung in den über Bibeltexte gesetzten Vier ernsten Gesängen, besonders die religiöse Schönheit des O Tod wie bitter bist du.“ 


2. Die lyrische Vermählung der Musik mit dem Wort

Leverkühn selbst vertont u.a. Gedichte von John Keats

Ode on Melancholy
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und vor allem einen (imaginären) Zyklus aus dreizehn Gedichten von Brentano. Ich habe ihn anhand des ungekürzten Manuskripts im Thomas-Mann-Archiv in Zürich rekonstruieren können und gestaltet. In ihm gibt es bereits deutliche Hinweise auf das wichtige “h-e-a-e-es“-Motiv (“So findet sich in den Tongeweben meines Freundes eine fünf- bis sechsköpfige Notenfolge, mit h beginnend, mit es endigend und mit wechselndem e und a dazwischen, auffallend häufig wieder…“ – Hetaera esmeralda).

Brentano-Zyklus

Eingang
Hymne
Als ich in tiefen Leiden
Die lustigen Musikanten
Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe
Wiegenlied
Nachklänge Beethovenscher Musik
Schicksalslied
Sprich aus der Ferne
Der Jäger an den Hirten
Großmutter Schlangenköchin
O lieb Mädel, wie schlecht bist du
Einen kenn ich…Tod so heißt er

Serenus Zeitblom schreibt dazu:
“Gewiss ganz selten in aller Literatur haben Wort und Klang einander gefunden und bestätigt wie hier. Es wendet Musik hier ihr Auge auf sich selbst und schaut ihr Wesen an. Dieses sich tröstend und trauernd Einander-die-Hand-bieten der Töne, dieses verwandelnd-verwandt ineinander Verwoben- und Verschlungensein aller Dinge, – das ist sie, und Adrian Leverkühn ist ihr jugendlicher Meister.-“

Alles ist...

“Alles ist freundlich wohlwollend verbunden,
bietet sich tröstend und trauernd die Hand,
sind durch die Nächte die Lichter gewunden;
alles ist ewig im Innern verwandt.


3. Die Chiffernschrift der Natur – Die schöpferisch träumende Natur träumt hier und dort dasselbe

In den Interessen des Vaters Jonathan Leverkühn, der die „elementa spekuliert“ und der in den Zeichen der Natur Mitteilungen und Übereinstimmungen sieht, die an die „wunderlichen Figuren“ bei Novalis und das „Alles ist ewig im Innern verwandt“ bei Brentano erinnern, an die “Chiffernschrift der Natur“, kündigt sich bereits die mittelalterlich-magische Sphäre des Volksbuchs vom Doctor Faust an.

Schnecke
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Der Vater Jonathan Leverkühn: “Was nun jene Zeichenschrift betrifft, über die er sich gar niemals beruhigen konnte, so fand sie sich auf der Schale einer neu-kaledonischen Muschel von mäßiger Größe und war auf weißlichem Grunde in leicht rötlichbrauner Farbe ausgeführt. Die Charaktere, wie mit dem Pinsel gezogen, gingen gegen den Rand hin in reine Strich-Ornamentik über, hatten aber auf dem größeren Teil der gewölbten Fläche in ihrer sorgfältigen Kompliziertheit das entschiedenste Ansehen von Verständigungsmalen.
“ Es hat sich“, sagte er mit einer gewissen Melancholie, „die Unmöglichkeit erwiesen, dem Sinn dieser Zeichen auf den Grund zu kommen. Leider, meine Lieben, ist dem so. Sage mir keiner, hier werde nicht etwas mitgeteilt! Dass es eine unzugängliche Mitteilung ist, in diesen Widerspruch sich zu versenken ist auch ein Genuss.“

“Sage mir keiner, hier werde nicht etwas mitgeteilt“.

Beispiele: Schneckenhäuser und Quarzgestein auf dem Ferdenpass/Wallis.


4. Das magische Quadrat – Das stimmige Zahlenquadrat

Das magische Quadrat

Bei diesem wichtigsten und umfangreichsten Thema ist es vor allem das Motiv des Magischen Quadrats, das mich zu meinen Gestaltungen angeregt hat; es handelt sich um das „Jupiter-Quadrat“, wie es sich auf Dürers Kupferstich „Melencolia I“ (1514) findet (es hängt jeweils über dem Klavier von Adrian Leverkühn).

“Darüber an der Wand war mit Reißnägeln ein arithmetischer Stich befestigt, den er in irgendeinem Altkramladen aufgetrieben: ein sogenanntes magisches Quadrat, wie es neben dem Stundenglas, dem Zirkel, der Waage, dem Polyeder und andren Symbolen auch auf Dürers ‚Melencolia‘ erscheint. Wie dort war die Figur in sechzehn arabisch bezifferte Felder eingeteilt, so zwar, dass die 1 im rechten unteren, die 16 im linken oberen Felde zu finden war; und die Magie – oder Kuriosität -bestand nun darin, dass diese Zahlen, wie man sie auch addierte, von oben nach unten, in die Quere oder in der Diagonale, immer die Summe 34 ergaben. Auf welchem Anordnungsprinzip dies zauberisch gleichmäßige Ergebnis beruhte, habe ich nie herausbringen können, aber schon vermöge des prominenten Platzes über dem Instrument, den Adrian dem Blatte gegeben, zog es immer wieder die Augen auf sich, und ich glaube, es verging wohl kein Besuch in seinem Logis, ohne dass ich mit einem raschen Blick querhin, schräg hinauf oder gerade hinunter die fatale Stimmigkeit nachgeprüft hätte.“

s. das magische Quadrat auf dem Kupferstich “Melencolia“ von Albrecht Dürer.

Melencolia

Diese sogenannte tabula Jovis mit Amulettcharakter gegen die Melancholie taucht auf bei Agrippa von Nettesheim, De occulta philosophia, handschriftlich zugänglich ab 1510, gedruckt 1533. Schon vor dem 12.Jahrhundert haben die Araber die magischen Quadrate den sieben Planeten zugeordnet entsprechend ihrer abnehmenden Entfernung von der Erde; 3×3 gehört folglich zu Saturn, 9×9 zum Mond. Wohl auch unter dem Einfluss der im 13.Jahrhundert aus dem Arabischen übersetzten Zauberhandschrift „Picatrix“ nehmen humanistische Gelehrte wie Agrippa und Paracelsus diese Tradition auf.

Das magische Quadrat

“Ich (recht höhnisch):“ Außerordentlich Dürerisch liebt Ihr’s, – erst „Wie wird’s mich nach der Sonne frieren“ und nun die Sanduhr der Melencolia. Kommt auch das stimmige Zahlenquadrat? Bin auf alles gefasst und gewöhne mich an alles.“

Das Dürersche Quadrat (4×4) hat die Zahlenfolge 1-16. Die Summe in jeder Zeile, Spalte und Diagonale ergibt jeweils 34. Die Quersumme ist 7. Die Summen der Quadrate der beiden Ziffern 3 und 4, also 9+16, ergibt 25, Quersumme wieder 7. Ebenfalls 7 ergibt die Differenz: 16-9. Das Produkt von 3×4 ist 12. Diesen Zahlen 7, 12, 25 und 34 kommt im Roman Dr. Faustus in mehrfacher Hinsicht Bedeutung zu.

Das magische Quadrat

Leverkühn: „Vernunft und Magie“, sagte er, „begegnen sich wohl und werden eins in dem, was man Weisheit, Einweihung nennt, im Glauben an die Sterne, die Zahlen…“


5. Der strenge Satz – Dr. Fausti Weheklag

„Weißt du, wo ich einem strengen Satz am nächsten war? Einmal im Brentano-Cyklus, im ‚O lieb Mädel‘. Das ist ganz aus einer Grundgestalt, einer vielfach variablen Intervallreihe, den fünf Tönen h-e-a-e-es abgeleitet, Horizontale und Vertikale sind davon bestimmt und beherrscht, soweit das eben bei einem Grundmotiv von so beschränkter Notenzahl möglich ist … Das Entscheidende ist, dass jeder Ton darin, ohne jede Ausnahme, seinen Stellenwert hat in der Reihe oder einer ihrer Ableitungen. Das würde gewährleisten, was ich die Indifferenz von Harmonik und Melodik nenne.“Ein magisches Quadrat“, sagte ich.“

5.1 strenge satz

Leverkühn komponiert also analog zum Konstruktionsprinzip des magischen Quadrats und erfindet damit die Zwölftonmusik („denn-ich-ster-be-als-ein-bö-ser-und-gu-ter-Christ“): die vier Zahlenreihen mit ihrer jeweils gleichen Summe entsprechen darin dem Grundthema, bestehend aus 12 Tönen, seiner Umkehrung, dem Krebs und der Krebsumkehrung. Die horizontalen Reihen betreffen, wie schon in der alten Polyphonie, die Melodie, während die Vertikalen den Akkord meinen. Die unterschiedlich möglichen Varianten der Zahlenanordnungen in den Reihen weisen auf die von dem Kind Adrian „entdeckte“ Enharmonik des Quintenzirkels hin –


6. Die Musik ist die Zweideutigkeit als System“

der strenge Satz
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Der strenge Satz – “im Beschwörungs-Creyß

Thomas Mann – Serenus Zeitblom – „komponiert“ seinen Roman nach den Prinzipien der Zwölftonmusik und somit des magischen Quadrats.

Der Grundreihe entsprechen die Kapitel 1-12, die Umkehrung wird eingeleitet mit Kapitel 13 (Schleppfuß), der Krebs beginnt mit Kapitel 25 (Teufelsgespräch), die Krebsumkehrung leitet Fitelberg mit Kapitel 37 ein.

Zu diesen musikalischen Modi der Zwölftonmusik kommen die verschiedenen Erzählebenen, die ebenfalls auf das magische Quadrat verweisen: die Ebene der Lebenszeit von Adrian Leverkühn (1885-1931); die der Hitlerzeit, wie sie Zeitblom erlebt; beide Ebenen stehen auch für die Lebenszeit von Thomas Mann; das neunzehnte Jahrhundert mit der Evokation von Nietzsche, Dostojewski, Beethoven, Hugo Wolf bezeichnet die dritte Ebene und die vierte betrifft die mittelalterlich-humanistische Welt mit dem historischen Doctor Faust, bzw. dem Volksbuch (1587) und seiner Magie, mit der Reformation, mit Dürer und dem Kreis der Humanisten.

Dass die Texte auf den Bildern (einschließlich der abgemalten Schriftproben von Thomas Mann) nicht immer leserlich sind, hängt mit dem hermetischen Charakter des Dargestellten zusammen…

Komposition des Romans