Chandolin zwischen zwei Abgründen

Übersetzung eines Artikels von Corinna Bille:

 

Zweitausend Meter. Ein Dorf, das sich am Abhang festhält, ein bisschen Gras, eine Quelle gegen den Durst, ein Wald gegen die Lawine. Das ist alles. Land des Nichts, der Leere. Dann aber entdeckt man – anders als in den einfachen Ländern, wo der Sand unter Palmen wartet – ein Land der größten Reichtümer.

Ruhe ist hier unmöglich, das Gleichgewicht ist außer Kraft, das Zarte gewaltsam. Wer hier lebt, muss zu Fuß gehen, hinaufsteigen, hinabsteigen und wieder hinauf. Aber Luft ist da, eine Luft, die man anfasst, sieht, die Gestalt hat, Farbe und Geruch, die unserem Blut einen neuen Rhythmus und unserer Seele eine neue Stärke abfordert. Hier ist mehr da als bloße Erde, denn hier hört die Erde auf. Ein Dorf aus Lärchen- und Arvenholz, Fortleben toter Bäume. Siebzehn Familien wohnen in dieser trockenen, seidig glänzenden Pflanzenwelt, wo noch das Harz fließt, wo die Außenwände in der Sonne verkohlen und die Farbe der Kühe annehmen, schwarz und rotbraun. Die Fassaden billigen das Nichts, bestärkt durch ihre grauen Dächer, leicht und weich wie Gefieder. Der Wind, wenn es windet, kommt von unten, die Töne kommen von unten, das Leben steigt herauf.

Vor Chandolin breitet sich das weite, sehr hochgelegene Anniviers-Tal aus bis hin zu seinen spitzesten und entferntesten Bergen, aber es gelingt ihm nicht, das Dorf zu überragen; das Matterhorn, das gegenüber herschaut, scheint niedriger zu sein. Aber hinter Chandolin tut sich ein weiteres Tal auf: “Les Eboulements,“ der Illgraben. Dieses Tal ist das Negativ eines Berges, der Ort seines Verschwindens. Deshalb hat Chandolin keinen Gipfel mehr und muss sich selbst genug sein; vor drei Jahrhunderten ist er eingestürzt, und die Rhone hat ihn zur Ebene gemacht. Ein riesiger blassgelber und rötlicher Einschnitt, der von Jahr zu Jahr größer wird; Bäume stürzen mit dem Wipfel voran hinein, Steine bersten, Risse bilden sich, der Boden klingt hohl an seinen Rändern; ganz unten windet sich träge ein Bach voller Lurche, als sei er aus verflüssigter Erde. In einigen hundert Jahren wird Chandolin zwischen zwei Abgründen wählen müssen.

Der Mensch hier hingegen hat keine Wahl. Im Winter trennt ihn der Schnee von der Erde. Monatelang verliert er den Kontakt zu ihr und ihrer Sicherheit, er schreitet über ihr wie früher die Heiligen. Er verbrennt sich an zwei Sonnen: der vom Himmel und der vom Schnee, in einer Temperatur, die von 24 Grad unter Null bis zu 40 Grad reicht, in einem Dekor luftiger Wundergebilde, fliegender Goldflitter und Prismen; an manchen Tagen, wenn ein schaumiges goldglänzendes Nebelmeer mit seinen Wogen bis an den Dorfrand reicht und alle anderen Dörfer ertränkt, entstehen Inseln mit Gipfeln und Buchten mit kleinen Tälern. Die Wälder tauchen violett und rostbraun daraus hervor wie Geisterwälder, als ob sie tausende von Jahren unter Wasser gewesen wären; und nur die Quellen bleiben wirklich und lebendig, aber schwärzlich geworden in der Umklammerung des Eises.

Die Frauen hüllen sich dann in Tücher, die nur ihre Augen frei lassen, und versorgen das Vieh in kleinen dampfenden Ställen; die Männer schnallen ihre Schier an und landen zweihundert Meter weiter unten vor einem Maiensäß, wo sie das Korn dreschen. Am Sonntag in der Messe beten und singen sie mit bloßer Stimme. Sie können auch lachen, und sie treiben gerne Schabernack. Hier – der Mädchenschreck: eine Horrorgestalt aus Heu und Wergleinen, mit einem glitzernden Eiszapfen als Geschlecht. Aber diese Gesten bringen sie immer noch nicht zurück zur Erde. Doch eines Morgens machen sie sich dann auf die Suche nach ihr. Sie graben und legen sie frei, füllen ihre Tragkörbe damit und streuen sie auf die Roggenfelder, damit der Schnee schneller schmilzt. Auf den steilen Wegen hauen sie Stufen ins Eis; die Herden lernen hier Treppen hinunter zu gehen. Die Kühe und Ziegen sind gelenkig und fügsam, und sie begreifen.

Hervorgegangen aus den großen Nomadenvölkern, den Arabern und Hunnen, sind die Bewohner von Chandolin wie alle anderen in diesem Alpental fahrendes Volk geblieben, aber begrenzt und treu im Fahren. Jedes Jahr machen sie den gleichen Weg. Sie nennen das: Weggehen und Heimkommen.

Im Vorfrühling gehen sie hinunter ins große Rhonetal, dorthin, wo es sich breit macht, wo es die Kavalkade der Berge um sich herum an die Seite drückt, statt sich zermalmen zu lassen, wo es das Flussbett umleitet, indem es seinen Lauf mit Hügeln versperrt und sich, Weinberg über Weinberg, Obstgarten über Obstgarten, zur Sonne streckt: Sierre. Chandolin zieht jetzt ins Viouc-Quartier ein und wird so plötzlich zum Nachbarn der Leute von Saint-Luc, Grimentz und Pinsec, von denen es oben durch Wälder und Abgründe getrennt ist.

Sie kommen auf Karren mit farblosen Rädern, die von struppigen schiefohrigen Mauleseln gezogen werden. Der Mann neben der Frau, die Kinder hinten mit dem Strohsack, den Heubündeln, mit Katze, Lamm, Zicklein und Schwein. Die Schellen der Anniviarden sind die ersten Frühlingsblumen, sie kommen gleichzeitig mit der violetten Küchenschelle.

Endlich haben sie den Fuß auf festes Erdreich gesetzt. Während der ganzen Fastenzeit wird es in den Weinbergen umgegraben, gehackt und umgewälzt. Sie haben alles mitgebracht, sogar ihre Pfeifenmusik, scharf und geradlinig wie ein Märzmorgen, die sie in ihrem Gemeindeweinberg begleitet, wo sie Seite an Seite arbeiten.

Danach steigen sie wieder hinauf in ihre Berge, die von der Schneeschmelze nun klebrig und hybride geworden sind. Eine Zeitlang bleiben sie in ihren weit verstreuten Chalets in den Weilern auf halbem Weg: in Soussillon, Pramin, Les Cloches, La Rêche. Wenn sie drei oder vier Frühlinge gekostet haben, kommen sie endlich in ihr Dorf zurück, wo sie den Sommer verbringen.

Die Fülle ist erreicht, aber die Erschöpfung nach vollbrachter Ernte – die Rücken gekrümmt, die Sense ins Leere geschwungen, das Heu auf den Köpfen und die Korngarben auf den Rücken wie goldene Flügel transportiert – macht die Freude zunichte, die ihnen doch zugestanden hätte bei all den üppigen erstaunlichen Pflanzen, den Düften, den vielerlei Schmetterlingen, bei diesen nach Weihrauch duftenden schimmernden Wäldern, in denen die große Alpenrose blüht und das Moränenweidenröschen; ich habe Freudenfeuer am 1.August erlebt, die ein Teil der Dorfbewohner vor lauter Erschöpfung verschmäht hat. Im Herbst scheint endlich der Friede über dieses Land gekommen zu sein, das unvermittelt reglos geworden ist und auf dem ernste Kühe Rasen vom Paradies weiden. Das Dorf, vom Widerschein der gelben Lärchenwälder beleuchtet, wirkt wie ein geheiligtes Dorf, aus dem die Angst verbannt ist. Aber die Angst ist immer da, und die milde Luft, die Mandorlen, dies reine Blau, die von Licht bedeckte Nacktheit kann sie nicht vertreiben, auch nicht die Stille.

Denn hier ist sie am tiefsten, und deshalb ist das Leben schwierig. Man glaubt an die Stille, es gibt sie nicht. Man hört, dumpf und unablässig, ein lautes Rauschen wie von einem sehr nahen Feuer: das Rauschen unseres Bluts. Man ist allein mit seinem Körper und allein mit seiner Seele. Da bleibt bloß mit sich selbst kämpfen oder sich verständigen. Armselige Ideen gehen dem Menschen im Kopf herum, werden zu einer einzigen und umkreisen ihn wie der Ring den Saturn. Es ist kein Land der Heiligenscheine.

Männer und Frauen. Ein Gebaren von König und Königin, beeinträchtigt vom Rausch der Müdigkeit. Die Kinder sehr schön, eine Schönheit gefährlich nahe an der Karikatur, achtzehnjährige Erzengel mit gelben Augen, Mädchen mit gerader Nase und hervorspringenden Backenknochen. Breite Kiefer und geschmeidige Hüften, im Blick liegen Schlauheit und Schrecken nah beieinander. Eine grausame Unschuld. Da sind sie: sie bücken sich, um durch die Türen treten zu können, und dann straucheln sie im Licht, das ihre Augen bluten lässt. Schaut sie an: schnell werden sie vorbeigehen und auf ewig verschwinden. Hier: Candide, der Präsident, Cyprien, der Erzähler, aus seinen Gesten erstehen Bilder, hier die zwei Daniels, die weissagen, Gabriel, mit fester Hand macht er die Buchführung der Gemeinde; und hier: Léon, der Fuchs- und Frauenwilderer, Innocente, die fromme Buhlerin, Philomène, die Würdige und Philomène, die Preziöse, Agnès, die Schöne, die gern für sich allein ist; hier: der Stumme, der mit gebeugtem Rücken daherkommt, er weiß, welcher Tag ist und welche Jahreszeit, er hat es immer gewusst, und hier die Verrückte, die lächelt und Däumchen dreht. Bewundert den großen Elie, den Musiker-Architekten, der die Kirche gebaut, die Orgeln geschnitzt und die Engel geformt hat. Und hier noch Basile, der Glöckner, seine trunkenen Glockenspiele vermögen bis weit in die Ferne hin zu ergreifen; Anselme, der zu große Wünsche hat, Damien, der Küster, mit einem Profil wie vom Chorgestühl, und Ulysses und Clovis.

Sie stammen aus einem seltsam reinen und klaren Land, wo schon das Atemholen mehr Kraft erheischt als anderswo, ein Land, das nicht mit sich handeln lässt, das absoluten Glauben verlangt, ein Land ohne Kompromisse, das den Menschen aus sich heraus treibt und einen Heiligen oder ein Ungeheuer aus ihm macht, selten einen Mittelmäßigen oder Gleichgültigen.

Es gibt hier nichts, darum kann hier alles Platz finden. Der Mensch ist allein, darum kann der Mensch hier zusammen kommen.

  • in: Image de la Suisse. Œuvres et études, Marseille: Cahiers du sud, 1943
  • in: le Sabot de Vénus. Le livre du mois, Lausanne 1970; in dieser Ausgabe folgen dann Gedichte unter dem Titel: Suite d’Anniviers.
  • in: L’aventure de Chandolin (Ed. 24 Heures, 1983); mit Texten von René-Pierre Bille, Edmond Bille und Maurice Chappaz
  • in: Le Sabot de Vénus, 2008 (Plaisir de Lire)

Anmerkungen:

Die Theorie, dass die Anniviarden von Arabern oder Hunnen abstammen, wurde Ende des 18.Jahrhunderts aufgebracht und seither kolportiert. Es gibt aber keinerlei Beweise dafür. Viel wahrscheinlicher ist, dass die nomadische Lebensweise im Val d’Anniviers sowie auch in den anderen Walliser Tälern von den geographischen Gegebenheiten und damit verbunden dem landwirtschaftlichen System abhängt.

 

Anmerkungen:

laut den Bildunterschriften in “L’aventure de Chandolin“:

“Nomadentum im Anniviers-Tal. Mit dem Beginn der Fastenzeit gehen die Bewohner von Chandolin nach Muraz (oder Viouc) bei Sierre im Rhonetal hinunter, um dort in ihren Weinbergen und wenigen Feldern zu arbeiten. Das nennen sie: “Weggehen“. Anfang April “gehen sie heim“. Mitte Oktober “gehen sie wieder weg“ zur Weinlese und “gehen heim“ in den ersten Dezembertagen. Dazwischen legen sie Aufenthalte in den Maiensässen ein, wo Heumahd und Feldarbeit sie erfordern.

So haben sie sich also dann früher Mitte April wieder auf den Weg gemacht mit ihren Karren, und zunächst einen Halt in den Maiensässen Soussillon und Rèches eingelegt. Wenn die Kartoffeln gesteckt, Bohnen und Frühroggen gesät waren und das Vieh das Heu aus den Scheunen gefressen hatte, gingen sie wieder nach Chandolin hinauf, wo sie den größten Teil des Sommers verbrachten.“

 

Der Vater von Corinna Bille, der Maler Edmond Bille, hatte Chandolin 1899 für sich entdeckt und war bei Pfarrer Joseph Pralong in Pension, ehe er sich selbst ein Chalet hat bauen lassen.

“Chandolin liegt in etwa 1920m Höhe auf einer schmalen Terrasse der Südwestflanke des Illhorns, fünf Fußstunden von Sierre entfernt. Damals zählte die Gemeinde mit dem Weiler Fang 54 Häuser und etwa 200 Einwohner. Chandolin selbst hatte 33 Häuser und 128 Einwohner. In den Zeiten, wo die Bewohner von Chandolin unten in der Ebene ihre Weinberge bearbeiteten, wurde der verlassene Ort von Wachen kontrolliert, im allgemeinen die ganze Zeit über von zwei Männer.“

 

aus:

S.Corinna Bille, Maurice Chappaz, Edmond et René-Pierre Bille,

L’aventure de Chandolin

Collection “Visages sans frontières“, ÉDITIONS 24HEURES-LAUSANNE

1983