Die sprechende Eiche

Großmutter George Sand erzählt,

Großmutter Hilde Fieguth hat übersetzt:

 

Die sprechende Eiche

 

Früher einmal stand im Wald von Cernas eine dicke alte Eiche, die gut und gern fünfhundert Jahre alt sein mochte. Der Blitz war schon mehrere Male in sie gefahren, und sie hatte sich eine neue Krone bilden müssen, die war ein wenig gedrungen, aber dicht und von üppigem Grün.

Über lange Zeit war diese Eiche verrufen. Die ältesten Leute im Dorf in der Nähe sprachen noch davon, dass damals, zu ihrer Zeit, die Eiche gesprochen und die bedroht hatte, die in ihrem Schatten ruhen wollten. Sie erzählten, dass zwei Wanderburschen, die Schutz unter ihr gesucht hatten, vom Blitz erschlagen wurden. Der eine war sofort tot, der andere nur betäubt, er war rechtzeitig weggelaufen, denn eine Stimme hatte ihn gewarnt:

«Geh schnell weg!»

Die Geschichte war so alt, dass man eigentlich nicht mehr an sie glaubte. Der Baum hieß zwar immer noch die sprechende Eiche, aber die Hirten hatten keine Angst mehr, sich ihr zu nähern. Es kam jedoch eine Zeit, wo sie mehr denn je als Zauberbaum verrufen war. Das war nach der Geschichte mit Emi.

Emi war ein kleiner armer Schweinehirt, ein unglückliches Waisenkind, unglücklich nicht nur, weil er schlecht wohnte, schlecht genährt und schlecht angezogen war, sondern auch, weil er wegen seiner Armut die Tiere hüten musste, die er hasste. Er hatte Angst vor ihnen, und diese Tiere, die empfindsamer sind, als sie aussehen, spürten gut, dass er ihrer nicht Herr wurde. Vom frühen Morgen an trieb er sie an die Stellen im Wald, wo sie Eicheln fressen konnten. Am Abend brachte er sie wieder zurück auf den Bauernhof. Das Kind bot einen traurigen Anblick: in Lumpen gehüllt, barhäuptig, die Haare flatterten im Wind, ein blasses Gesichtchen, mager, fahl, traurig, ängstlich, leidend, so trieb er die Herde der quiekenden Tiere vor sich her, die ihn mit schiefem Blick und gesenktem Kopf immerzu bedrohten. Wenn man ihn so hinter ihnen über die dunkle Heide laufen sah, im roten Dunst der frühen Abenddämmerung, hätte man ihn für einen von einem Windstoß gejagten Heidekobold halten können.

Er wäre jedoch liebenswert und hübsch gewesen, der arme kleine Schweinehirt, wenn jemand für ihn gesorgt hätte und er sauber und glücklich gewesen wäre so wie ihr, meine lieben Kinder, die ihr das lest. Er konnte nicht lesen, er wusste nichts, er konnte gerade einmal so viel sprechen, um das Nötige zu erbitten, und da er ängstlich war, bat er auch darum nicht immer, um so schlimmer war es für ihn, wenn man ihn vergaß.

Eines Abends kehrten die Schweine allein in den Stall zurück, und der Schweinehirt erschien nicht zum Essen. Das wurde erst bemerkt, als die Rübensuppe aufgegessen war; die Bäuerin schickte einen ihrer Knaben auf die Suche nach Emi. Er kam zurück und sagte, dass Emi nicht im Stall sei und auch nicht in der Scheune, wo er sein Strohlager hatte. Da dachten sie, er sei zu seiner Tante gegangen, die in der Nähe wohnte und legten sich zu Bett, ohne weiter an ihn zu denken.

Am nächsten Morgen ging jemand zur Tante und hörte erstaunt, dass Emi die Nacht nicht bei ihr gewesen war. Seit dem Vortag war er nicht mehr im Dorf aufgetaucht. Man erkundigte sich in der Umgebung nach ihm, niemand hatte ihn gesehen. Vergeblich suchten sie ihn im Wald. Da glaubten sie, dass die Wölfe oder Wildschweine ihn gefressen haben. Allerdings hatte man weder sein Jäteisen – eine Art Hirtenstab mit kurzem Stil – gefunden noch irgendwelche Fetzen von seinem ärmlichen Gewand. Daraus schloss man, dass er aus der Gegend fort gegangen war und fortan als Landstreicher leben wolle. Der Bauer meinte, das sei kein großer Schade, das Kind war sowieso zu nichts zu gebrauchen gewesen, es hatte seine Tiere nicht gemocht und es auch nicht dahin gebracht, dass es von ihnen gemocht wurde.

Ein neuer Schweinehirt wurde für den Rest des Jahres eingestellt. Das Verschwinden von Emi versetzte jedoch alle die anderen Burschen in der Umgebung in Angst und Schrecken. Als er das letzte Mal gesehen worden war, war er gerade auf dem Weg in die Gegend der sprechenden Eiche. Ganz gewiss war ihm da ein Unglück zugestoßen. Der neue Hirt achtete sorgsam darauf, seine Herde nicht dorthin zu führen, und die anderen Kinder hüteten sich, zum Spielen hin zu gehen.

Ihr fragt mich, was mit Emi geschehen ist. Geduld, gleich erzähle ich es euch.

Als er das letzte Mal mit seinen Tieren in den Wald gegangen war, hatte er in der Nähe der dicken Eiche einen Büschel von blühenden Platterbsen entdeckt. Die Platterbse, bzw. die knollige Platterbse ist dieser hübsche Schmetterlingsblütler mit den rosa Blütentrauben, die ihr kennt, die Erdnuss-Platterbse; ihre Knollen sind groß wie eine Haselnuss, ein bisschen bitter, wenngleich süß. Arme Kinder sind versessen darauf; das ist eine Kost, die es umsonst gibt und die ihnen nur die Schweine, die auch versessen darauf sind, streitig machen. Wenn von alten Einsiedlern die Rede ist, die sich von Wurzeln ernährten, so könnt ihr sicher sein, dass die beliebteste Speise ihrer kargen Küche in unseren Breiten die Knolle dieser Platterbse war.

 

Emi wusste genau, dass die Knollen noch nicht reif waren, denn es war erst Herbstanfang. Er wollte die Stelle kennzeichnen, um sie dann auszugraben, wenn Blüte und Stängel verwelkt waren. Ein junges Schwein war ihm nachgelaufen und fing nun in der Erde zu wühlen an, das drohte alles zu zerstören. Da versetzte ihm Emi, wütend über die sinnlose Zerstörung durch das gefräßige Tier, mit seinem Jäteisen einen Schlag auf die Schnauze. Das Eisen an seiner Hacke war frisch geschliffen und schnitt dem Schwein ein bisschen in die Nase. Es stieß einen Alarmschrei aus. Ihr wisst, wie sich die Tiere untereinander zu Hilfe kommen und wie gewisse Hilferufe gleich alle dem gemeinsamen Feind gegenüber in Wut versetzen. Und überhaupt nahmen sie es Emi schon lange übel, dass er nie Zärtlichkeiten und Lob für sie übrig gehabt hatte. Um die Wette quiekend liefen sie zusammen, drängten sich um ihn und wollten ihn fressen. Das arme Kind ergriff die Flucht, sie rannten ihm nach. Ihr wisst, dass diese Tiere schrecklich schnell rennen können. Gerade noch konnte er die dicke Eiche erreichen, ihren knorrigen Stamm hinaufklettern und sich auf ihren Ästen in Sicherheit bringen. Die wütende Herde blieb grunzend, drohend unter dem Baum und wühlte den Boden auf, um den Baum zu Fall zu bringen. Aber die sprechende Eiche hatte gewaltige Wurzeln, die sich nichts aus einer Schweineherde machten. Die Angreifer gaben trotzdem erst nach Sonnenuntergang auf. Da beschlossen sie, zum Hof zurückzukehren, und der kleine Emi, überzeugt davon, dass sie ihn auffressen würden, wenn er mit ihnen ginge, fasste den Entschluss, nie mehr dahin zurückzugehen.

Natürlich wusste er, dass man die Eiche für einen verzauberten Baum hielt, aber er hatte so viel Grund, sich über lebendige Wesen zu beklagen, dass er keine große Furcht vor Geistern hatte. Nur Elend und Schläge hatte er erlebt; seine Tante war sehr streng mit ihm; sie zwang ihn zum Schweinehüten, ihn, den es doch immer vor ihnen gegraut hatte. So war er von Natur aus, aber sie machte ein Verbrechen daraus. Und wenn er sie besuchte und anflehte, sie möge ihn doch zu sich nehmen, da versohlte sie ihm, wie man so sagt, den Hintern. Er hatte demnach große Angst vor ihr. Sein größter Wunsch war, Schafe auf einem anderen Bauernhof zu hüten, wo die Leute nicht so geizig und garstig zu ihm wären.

Im ersten Moment nach dem Abzug der Schweine spürte er erst einmal nur Erleichterung darüber, dass er ihre wilden Schreie und Drohungen los war und beschloss, die Nacht an diesem Ort zu verbringen. Es war noch genügend Brot in seinem graubraunen Leinensack, denn während der ausgestandenen Belagerung war ihm nicht nach Essen zumute gewesen. Er aß die Hälfte und hob die andere für das Frühstück auf. Und dann: Komme was wolle!

Kinder schlafen überall. Emi jedoch schlief wenig. Er war kränklich, hatte oft Fieber und träumte mehr, als dass er sich im Schlaf erholen konnte. Er setzte sich so gut wie möglich zwischen zwei moosbedeckten Hauptästen zurecht. Es schläferte ihn sehr, aber der Wind heulte in den Blättern und knarrte in den Zweigen und machte ihm Angst, und nun fielen ihm die bösen Geister ein. Das ging soweit, dass er eine grelle ärgerliche Stimme zu hören meinte, die ihm mehrere Male zurief:

«Geh weg von hier! Verschwinde!»

Emi zitterte, seine Kehle war wie zugeschnürt, und er kam zunächst gar nicht auf die Idee zu antworten, aber dann ließ der Wind nach, und gleichzeitig wurde die Stimme der Eiche sanfter und schien ihm in mütterlichem zärtlichem Ton zuzuflüstern: «Geh weg, Emi, geh weg!» Da fasste er Mut und antwortete:

«Eiche, meine schöne Eiche, schick mich nicht weg. Wenn ich hinuntersteige, fressen mich die Wölfe, die sich in der Nacht herumtreiben.»

«Geh, Emi, geh», wiederholte die Stimme in noch milderem Ton.

«Meine gute sprechende Eiche», wiederholte auch Emi, in flehentlichem Ton, «schicke mich nicht zu den Wölfen. Du hast mich vor den Schweinen gerettet, du warst freundlich zu mir, sei es weiterhin. Ich bin ein armes unglückliches Kind, ich kann und will dir nichts zuleide tun: behalte mich diese Nacht. Wenn du es befiehlst, gehe ich morgen früh.»

Die Stimme gab keine Antwort mehr, und der Mond tauchte die Blätter in schwach silbriges Licht. Emi schloss daraus, dass er bleiben durfte, oder aber, dass er die Worte, die er zu hören glaubte, geträumt hatte. Er schlief ein, und merkwürdigerweise träumte er nichts mehr und schlief durch bis zum Morgen. Da stieg er hinunter und schüttelte den Tau aus seinen ärmlichen Kleidern.

 

«Ich muss aber doch noch einmal ins Dorf gehen, ich sage meiner Tante, dass mich die Schweine fressen wollten und ich auf einem Baum übernachten musste, dann wird sie mir erlauben, mir eine andere Stellung zu suchen.»

Er aß sein restliches Brot; aber ehe er sich auf den Weg machte, wollte er sich bei der Eiche bedanken, die ihn gestern und in der Nacht beschützt hatte.

«Leb wohl und danke schön, meine gute Eiche», sagte er und küsste die Rinde, «ich habe nie mehr Angst vor dir, und ich besuche dich wieder und sage dir noch einmal Dank.»

Dann ging er quer über die Heide zur Strohhütte seiner Tante. Da hörte er Stimmen hinter der Gartenmauer des Bauernhofs.

«Also gut», sagte ein Bursche, «unser Schweinehirt ist nicht zurückgekommen, er war nicht bei seiner Tante, er hat seine Herde sich selbst überlassen. Also hat er kein Herz und ist ein Faulpelz, dem würde ich ganz schön eins überziehn mit meinem Holzschuh, zur Strafe dafür, dass ich jetzt an seiner Stelle die Tiere auf die Weide führen muss.»

«Was hast du gegens Schweinehüten?», fragte der andere.

«Das ist eine Schande in meinem Alter», antwortete der erste, «das ist etwas für einen Zehnjährigen wie den kleinen Emi, aber wenn man schon zwölf ist, dann darf man Kühe hüten oder wenigstens Kälber.»

Die zwei Buben wurden von ihrem Vater unterbrochen.

«Los los! an die Arbeit!», rief er. «Und was diesen verdammten Hirten angeht, was machts, wenn ihn die Wölfe gefressen haben; wenn ich ihn jedoch lebend finde, dann setzt es Schläge. Es nützt ihm nichts, wenn er sich bei seiner Tante ausweinen will, die will ihn bei den Schweinen schlafen lassen und ihm so den Stolz und das Zimperlichtun austreiben.»

Emi, entsetzt über diese Drohung, ließ es sich gesagt sein. Er versteckte sich den ganzen Tag in einem Getreideschober. Gegen Abend kam auf dem Weg zum Stall eine Ziege vorbei, die sich beim Naschen irgendwelcher Kräuter verspätet hatte und ließ sich von ihm melken. Nachdem er zwei- oder dreimal seinen Holzbecher gefüllt und ausgetrunken hatte, versteckte er sich bis zur Nacht wieder in den Garben. Als es völlig dunkel geworden war und alles schlief, schlich er zu seiner Scheune und holte seine Habseligkeiten: ein paar Groschen, die er verdient und die ihm der Bauer am Vorabend ausbezahlt hatte und die ihm seine Tante noch nicht hatte abnehmen können, ein Ziegenfell und ein Schaffell für den Winter, ein neues Messer, einen kleinen irdenen Topf und einige Wäschestücke voller Löcher. Er steckte alles in seinen Sack, ging in den Hof hinunter, kletterte über den Zaun und schlich mit kleinen Schritten, um keinen Lärm zu machen, davon. Aber als er am Schweinestall vorbeikam, rochen oder hörten ihn diese vermaledeiten Tiere und grunzten ganz fürchterlich. Emi hatte Angst, dass der Bauer, aus seinem ersten Schlaf geweckt, ihm nachsetzen würde und rannte, so schnell er konnte, davon. Erst unter der sprechenden Eiche hielt er an.

«Da bin ich wieder, mein guter Freund», sagte er zu ihr. «Lass mich noch eine Nacht in deinen Zweigen verbringen. Sag, ob es dir recht ist!»

Die Eiche antwortete nicht. Es war windstill, kein Blatt rührte sich. Emi sagte sich, wer nicht nein sagt, stimmt zu. Vollbepackt wie er war, schwang er sich geschickt zu der dicken Astgabel hoch, auf der er die vergangene Nacht verbracht hatte und schlief da tief und fest.

Am nächsten Tag machte er sich auf die Suche nach einer Stelle, die sich als Versteck für sein Geld und seine Sachen eignete, denn er hatte noch keinerlei Vorstellung davon, wie er aus der Gegend verschwinden könnte ohne entdeckt und gewaltsam zum Hof zurückgebracht zu werden. Er kletterte höher hinauf. Da entdeckte er im Hauptstamm des dicken Baums ein schwarzes Loch, das durch den Blitz entstanden sein musste und zwar schon vor langer Zeit, denn rundherum hatte sich ein dicker Rindenwulst gebildet. Unten in diesem Versteck lagen Asche und winzige vom Blitz zerkleinerte Holzstückchen.

«Das ist ja fürwahr ein überaus weiches und warmes Bett, in dem ich schlafen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass ich beim Träumen hinunterfalle», sagte sich das Kind. «Es ist nicht groß, aber für mich reicht es. Aber schauen wir erst einmal nach, ob nicht ein wildes Tier darin wohnt».

Er durchstöberte gründlich seinen Zufluchtsort und sah, dass oben ein Spalt war, durch den bei Regen Feuchtigkeit eindringen konnte. Aber er sagte sich, dass der ganz leicht mit Moos auszustopfen war. Eine Eule hatte ihr Nest in dem Zwischenraum gebaut.

«Ich störe dich nicht», dachte Emi, «aber ich werde die Verbindung schließen. Dann hat jeder sein Zuhause.»

Als er sein Nest für die kommende Nacht hergerichtet und seine Sachen in Sicherheit gebracht hatte, setzte er sich in sein Loch, die Beine außen gegen einen Ast gestützt. Da kam ihm flüchtig der Gedanke, dass es möglich sein könnte, in einem Baum zu leben. Aber es wäre ihm lieber gewesen, wenn der Baum mitten im Wald und nicht am Waldrand gestanden wäre, wo er den Blicken der Schäfer und Schweinehirten ausgesetzt war, die ihre Herden dorthin trieben. Er konnte nicht ahnen, dass wegen seines Verschwindens der Baum zu einem Objekt der Furcht geworden war und niemand mehr in die Nähe kam.

Allmählich machte sich der Hunger bemerkbar, und obwohl er ein schwacher Esser war, merkte er wohl, dass er am Abend zuvor nichts richtiges gegessen hatte. Sollte er die noch unreifen Knollen in der Nähe ausgraben, die er gesehen hatte? Oder sollte er zu den Esskastanienbäumen gehen, die tiefer im Wald wuchsen?

Beim Hinabklettern sah er, dass der Ast, auf den er seine Füße gestellt hatte, nicht zu seiner Eiche gehörte. Es war der Ast eines Nachbarbaums, der seine schönen starken Zweige mit denen der sprechenden Eiche vermischte. Er wagte sich auf diesen Ast und erreichte so die Nachbareiche, die wiederum einen anderen leicht erreichbaren Baum zum Nachbarn hatte. Da sprang er, behände wie ein Eichhörnchen, von Baum zu Baum bis hin zu den Kastanien, wo er reiche Ernte hielt. Die Maroni waren noch klein und noch nicht ganz reif, aber das nahm er nicht so genau. Und er richtete sich dort sozusagen eine zweite kleine Absteige ein, an einer sehr einsamen, gut versteckten Stelle, wo früher einmal ein Kohlenmeiler gewesen war und wo er seine Maroni kochte. Um die runde Feuerstelle standen junge Bäume, die seither gewachsen waren; es lagen viele halbverbrannte Holzstückchen herum. Emi hatte keine Mühe damit, einen Haufen davon zusammenzutragen und anzuzünden. Dazu schlug er mit einem Kieselstein an den Messerrücken und fing die Funken mit welken Blättern auf; er nahm sich vor, einen Vorrat an Zunder anzulegen, auf den morschen Bäumen im Wald gab es genug davon. In einem Graben war Wasser, so dass er in seinem irdenen Topf mit gelochtem Deckel seine Kastanien kochen konnte. Mit solch einem zu diesem Gebrauch bestimmten Hausgerät ist jeder Hirte in der Gegend dort ausgestattet.

Emi, der seine Tiere in weit entfernte Gegenden hatte führen müssen und deshalb oft erst am Abend auf den Hof zurückgekommen ist, war daran gewöhnt, sich selbst um seine Nahrung zu kümmern; er war nicht darum verlegen, sich seinen Himbeer- und Brombeernachtisch von den Sträuchern in der kleinen Waldlichtung zu pflücken.

«Gut», dachte er, «Küche und Speisezimmer sind schon einmal gefunden».

Dann machte er sich daran, den Bachlauf nebenan zu reinigen. Mit seinem Jäteisen entfernte er die verfaulten Pflanzen, hob ein kleines Becken aus, legte einen kleinen Wasserfall frei, der sich in Tonerde ergoss und fasste ihn mit Sand und Kieselsteinen ein. Mit dieser Arbeit war er bis Sonnenuntergang beschäftigt. Dann nahm er seinen Topf und seinen Stab zu sich, und auf den Ästen, deren Tragfähigkeit er schon erprobt hatte, fand er seinen Eichhörnchenweg wieder, von Ast zu Ast sprang er bis zu seiner Eiche. Er brachte ein dickes Bündel Farn und trockenes Moos mit und machte daraus sein Bett in dem bereits gesäuberten Loch. Über sich hörte er deutlich seine Nachbarin, die Eule, wie sie unruhig brummelte.

«Entweder zieht sie aus oder sie gewöhnt sich daran», dachte er. «Die gute Eiche gehört mir genauso wie ihr.»

Da Emi das Alleinsein gewöhnt war, langweilte er sich nicht. Mehrere Tage lang schwelgte er im Glück, die Gesellschaft der Schweine los zu sein. Er gewöhnte sich an das Heulen der Wölfe, er wusste, dass sie im Waldesinnern bleiben und kaum in die Gegend, in der er sich aufhielt, vordringen würden. Die Herden kamen nicht mehr in die Nähe und seine Kameraden schon gar nicht. Allmählich wurde Emi mit den Gewohnheiten der Wölfe vertraut. An hellen Tagen traf er nie welche im Waldinnern an. Nur bei Nebel hatten sie Mut, aber auch dieser Mut war nicht sehr groß. Einige Male waren sie Emi von weitem gefolgt, aber um sie in die Flucht zu schlagen, genügte es, dass er sich umdrehte und das Geräusch einer Flinte, deren Hahn gespannt wird, nachahmte, indem er mit seinem Messer gegen das Jäteisen schlug. Wildschweine hörte er manchmal, sah sie aber nie. Das sind rätselhafte Tiere, die nie als erste angreifen.

Als die Zeit der Kastanienernte gekommen war, legte er sich einen Vorrat an, den er in einem anderen hohlen Baum nahe bei seiner Eiche versteckte. Aber Ratten und Mäuse rissen sich so sehr darum, dass er sie im Sand vergraben musste, wo sie sich bis zum Frühjahr hielten. Überhaupt hatte er vielerlei zu essen. Die Heide war nun leer und verlassen, so konnte er sich nachts bis zu den bebauten Feldern vorwagen und Kartoffeln und Rüben ausgraben. Aber das war Diebstahl und ihm eigentlich zuwider. Auf den brachliegenden Feldern sammelte er massenhaft Erdnusserbsen auf, machte sich Schlingen aus Rosshaaren, die hier und da von den Pferden auf der Weide im Gesträuch hängen geblieben waren und fing Lerchen damit. Hirten können aus allem etwas machen und haben für alles Verwendung. Emi sammelte von den Stacheln der Zäune so viel Wollflocken, dass er sich eine Art Kopfkissen machen konnte. Später fertigte er sich Spinnrocken und Spindel an und brachte sich selbst das Spinnen bei. Aus dem Draht, den er bei einem oberflächlich reparierten Gatter gefunden hatte, machte er sich Stricknadeln; als es noch einmal repariert wurde, holte er mehr davon und machte Hasenfallen daraus. So konnte er schließlich Strümpfe stricken und Fleisch essen. Er wurde zu einem sehr geschickten Jäger. Da er Tag und Nacht die Gewohnheiten des Wilds beobachtete und dadurch in alle Geheimnisse von Wald und Heide eingeführt war, stellte er seine Fallen an sicheren Orten auf und hatte Wild im Überfluss.

Sogar Brot hatte er, soviel er wollte und zwar dank einer alten schwachsinnigen Bettlerin, die jede Woche zur Eiche kam, wo sie ihren Bettelsack abstellte und ausruhte. Emi, der ihr auflauerte, zog sich sein Ziegenfell über den Kopf und kam vom Baum herunter. Im Austausch zu dem Stück Wild, das er ihr gab, bekam er von ihr ein Stück Brot. Sollte sie Angst vor ihm haben, so zeigte sich die nur in einfältigem unterwürfigem Lachen und einer Fügsamkeit, die sie im übrigen nicht bereuen sollte.

So verging der Winter, der sehr mild und auch der Sommer, der heiß und gewittrig war. Emi hatte anfangs große Angst vor einem Gewitter, denn der Blitz schlug mehrmals in Bäume ganz in der Nähe ein. Aber dann machte er sich klar, dass die sprechende Eiche, da sie schon vor langer Zeit gekappt worden war und sich eine neue schirmförmige Krone gebildet hatte, die Blitze nicht mehr anzog; die trafen die höheren, kegelförmigen Bäume. So konnte er sogar schlafen, wenn der Donner rollte und die Blitze zuckten und hatte genauso wenig Angst wie seine Nachbarin, die Eule.

In dieser Einsamkeit blieb ihm keine Zeit für Langeweile, da er unentwegt damit beschäftigt war, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und seine Freiheit zu bewahren. Man hätte ihn für einen Faulpelz halten können, aber er selbst wusste genau, dass es ihn viel mehr Mühe kostete, allein zu leben als wenn er auf dem Hof geblieben wäre. Er erwarb auch mehr Klugheit, Mut und Umsicht, als es in einem normalen Leben der Fall gewesen wäre. Als jedoch dieses ungewöhnliche Leben nach Wunsch verlief und nicht mehr so viel Zeit und Sorge erforderte, begann er sich Gedanken zu machen, und er spürte, wie ihm sein junges Gewissen einige unliebsame Fragen stellte. Konnte er immer so auf Kosten des Waldes leben, ohne jemandem zu dienen und ohne etwas für einen Mitmenschen zu tun? Er empfand etwas wie Freundschaft zu Trine, der schwachsinnigen Alten, die ihm Brot im Tausch zu seinen Hasen und auf Schnüren aufgereihten Lerchen gab. Da sie kein Gedächtnis hatte, kaum redete und folglich niemandem von ihren Treffen mit ihm erzählte, war er dazu übergegangen, sich ihr mit unverhülltem Gesicht zu zeigen. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Ihr stumpfsinniges Lachen schien Freude auszudrücken, wenn sie ihn so vom Baum heruntersteigen sah, und Emi wunderte sich, dass es ihm genauso erging. Es war ihm nicht bewusst, aber er fühlte, dass die Gegenwart eines menschlichen Wesens, so verwahrlost es auch sei, eine Wohltat bedeutet für jemanden, der sich zur Einsamkeit verurteilt hat. Als sie ihm an einem Tag weniger abgestumpft als sonst vorkam, versuchte er mit ihr zu reden und sie zu fragen, wo sie wohne. Sofort hörte sie auf zu lachen und antwortete mit klarer Stimme und in ernsthaftem Ton:

«Willst du mit mir kommen, Kleiner?»

«Wohin?»

«In mein Haus. Wenn du mein Sohn sein willst, mache ich dich reich und glücklich.»

Emi wunderte sich sehr, dass die alte Trine auf einmal so klar und vernünftig sprechen konnte. Aus Neugierde hätte er ihr fast getraut, aber da bewegte ein Windstoß die Äste über seinem Kopf, und er hörte, wie die Stimme der Eiche zu ihm sagte:

«Geh nicht hin!»

«Guten Abend und guten Weg», sagte er zur Alten, «mein Baum will nicht, dass ich ihn verlasse.»

«Dein Baum ist eine Dummkopf», antwortete sie, «oder vielmehr du bist einer, wenn du an Baumworte glaubst.»

«Ihr glaubt nicht, dass Bäume sprechen? Da täuscht Ihr euch sehr!»

«Alle Bäume sprechen, wenn der Wind sich in ihnen bewegt, aber sie wissen nicht, was sie sagen, das ist, als wenn sie nichts sagten.»

Emi ärgerte sich über diese nüchterne Erklärung von etwas Wunderbarem. Er antwortete Trine:

«Wenn hier jemand Unsinn redet, dann Ihr, Alte! Und wenn es auch alle Bäume so machen wie Ihr sagt, meine Eiche jedenfalls weiß, was sie will und was sie sagt.»

Die Alte zuckte mit den Schultern, packte ihren Bettelsack, machte sich auf den Weg und lachte wieder ihr idiotisches Lachen.

 

Emi fragte sich, ob sie eine Rolle spielte oder ob sie lichte Moment habe. Er ließ sie gehen, folgte ihr aber, ohne dass sie es merkte, indem er sich von Baum zu Baum stahl. Sie ging nicht schnell, marschierte dahin mit gekrümmtem Rücken, vorgestrecktem Kopf, halb offenem Mund, das Auge starr voraus gerichtet. Aber obwohl sie so erschöpft wirkte, kam sie doch zügig voran, ohne Hast und ohne nachzulassen. So hatte sie den Wald in gut drei Stunden durchquert bis hin zu einem armseligen Weiler, der auf einem Hügel lag. Dahinter erstreckten sich andere Wälder unabsehbar in die Ferne. Emi sah, wie sie in eine elende Hütte eintrat, die abseits der anderen Behausungen lag, die zwar weniger erbärmlich aussahen, aber gleichwohl nur ein Haufen von einem Dutzend jämmerlicher Löcher waren. Er wagte sich nicht weiter als bis zu den vordersten Bäumen des Waldes vor, dann kehrte er um, fest davon überzeugt, dass Trine zwar ein Zuhause hatte, dass das aber armseliger und hässlicher war als sein Loch in der sprechenden Eiche.

Erst gegen Abend kam er wieder in seiner Bleibe in der großen Eiche an, todmüde, aber froh, wieder daheim zu sein. Auf dieser Reise hatte er erfahren, wie weit sich der Wald erstreckte und dass ein Dorf in der Nähe war. Aber dieses Dorf schien von der Natur viel weniger bedacht zu sein als das Dorf Cernas, in dem er aufgewachsen war. Überall war nur Heideland, keine Spur von Bebauung, die wenigen Tiere, die er um die Häuser herum hatte weiden sehen, waren nur Haut und Knochen. Darüber hinaus hatte er nur düstere Wälder am Horizont wahrgenommen. Das jedenfalls war nicht die Richtung, in der er ein besseres Leben als das jetzige finden könnte.

Nach einer Woche erschien Trine zur üblichen Stunde. Sie kam aus Cernas, und er fragte sie nach Neuigkeiten von seiner Tante, um zu sehen, ob die Alte imstande und willens war, ihm wie beim letzten Mal zu antworten. Und sie antwortete sehr klar:

«Die Muhme Nanette hat wieder geheiratet, wenn du zu ihr zurückgehst, wird sie dir nach dem Leben trachten, die will dich los werden.»

«Redet Ihr vernünftig?, fragte Emi, «sagt Ihr die Wahrheit?»

«Ich sage die Wahrheit. Dir bleibt nichts anderes übrig, als zu deinem Herrn zurückzugehen und bei den Schweinen zu leben, oder aber du verdienst dir dein Brot bei mir, das wäre besser für dich als du denkst. Du kannst nicht ewig im Wald leben. Er ist verkauft worden, ganz bestimmt werden die alten Bäume gefällt. Deiner Eiche wird es gehen wie den anderen. Glaub mir, Kleiner. Man kann nirgends leben ohne Geld zu verdienen. Geh mit mir, du wirst mir helfen, viel zu verdienen, und wenn ich einmal sterbe, dann bekommst du alles, was ich habe.»

Emi war so erstaunt, die schwachsinnige Alte so normal und vernünftig reden zu hören, dass er seinen Baum anschaute und ihm das Ohr hinhielt, als wolle er ihn um Rat fragen.

«Lass doch diesen alten Holzklotz in Ruhe», sagte Trine. «Sei nicht so dumm, und komm mit mir mit.»

Da der Baum sagte nichts, ging Emi mit der Alten, die ihm auf dem Weg ihr Geheimnis verriet.

– «Ich bin weit weg von hier auf die Welt gekommen, arm und ein Waisenkind wie du. Ich bin im Elend aufgewachsen und habe viele Schläge bekommen. Auch ich habe Schweine gehütet, und wie du hatte ich Angst vor ihnen. Wie du bin ich ausgerissen. Aber als ich auf einer alten morschen Brücke über einen Fluss gehen musste, bin ich ins Wasser gefallen. Man hat mich wie tot herausgezogen und zu einem guten Doktor gebracht, der mich ins Leben zurückholte. Aber ich hatte den Verstand verloren, war taub und konnte kaum mehr sprechen. Da hat er mich aus Mitleid bei sich behalten. Weil er nicht sehr reich war, hat der Pfarrer dort Almosen für mich gesammelt, die Damen haben mir Kleider gebracht, Wein, Naschwerk, und all das, was ich brauchte. Bald ging es mir besser, ich wurde so gut behandelt! Aß gutes Fleisch, trank guten süßen Wein, hatte im Winter ein warmes Zimmer, ich lebte wie eine Prinzessin, und der Doktor war zufrieden. Er sagte:

«Seht an, sie hört schon, was man zu ihr sagt. Sie findet die Worte wieder. In zwei oder drei Monaten wird sie arbeiten können und ihr Leben ehrlich selbst verdienen.»

Und all die schönen Damen rissen sich um mich.

Ich war also nicht in Verlegenheit, gleich nach meiner Genesung eine Stellung zu finden. Aber die Arbeit schmeckte mir nicht, und man war nicht zufrieden mit mir. Ich wäre gern Kammerzofe geworden, aber ich konnte weder nähen noch frisieren. Ich musste Wasser aus dem Brunnen holen und Geflügel rupfen. Das passte mir nicht. Ich ging weg von dort im Glauben, es anderswo besser zu treffen. Es wurde aber schlimmer, man schimpfte mich Schmutzfink und Faulpelz. Mein alter Doktor war gestorben. Man jagte mich von Haus zu Haus, und, nachdem ich der Liebling aller gewesen war, musste ich nun die Gegend verlassen wie ich gekommen war: als Bettlerin. Aber ich war schlimmer dran als vorher, denn ich hatte erfahren, wie es ist, wenn man glücklich ist. Jetzt bekam ich so wenig, dass ich kaum genug zum Essen hatte. Die Leute meinten, ich sei zu kräftig und zu gesund, um zu betteln. Es hieß:

«Geh arbeiten, du Faulenzerin! Es ist eine Schande, sich in deinem Alter auf den Wegen herumzutreiben, wenn man doch für sechs Pfennige am Tag die Steine aus den Feldern holen kann.»

Also fing ich zu hinken an, um die Leute glauben zu machen, dass ich nicht arbeiten kann, aber immer noch hieß es, ich sei zu kräftig, um nichts zu tun. Da erinnerte ich mich an die Zeit, als jedermann Mitleid mit mir hatte, weil ich schwachköpfig war. Ich konnte das Verhalten wieder annehmen, das ich damals hatte, die Gewohnheit, zu grinsen statt zu sprechen, und ich spielte diese Rolle so gut, dass es Groschen und Almosen in meinen Bettelsack regnete. Auf diese Art lebe ich nun seit vierzig Jahren, ohne je abgewiesen zu werden. Wer mir kein Geld geben kann, gibt mir Käse, Obst und Brot, mehr als ich tragen kann. Mit dem, was für mich zu viel ist, füttere ich meine Hühner, die verkaufe ich auf dem Markt, und das bringt mir etwas ein. Ich habe ein schönes Haus in einem Dorf, zu dem ich dich nun führen werde. Die Gegend dort ist armselig, aber nicht die Bewohner. Wir sind alle arm und schwach, jedenfalls tun wir so, jeder macht seine Tour in einer bestimmten Gegend, in die die anderen, wie wir abgemacht haben, an diesem Tag nicht gehen. So kann jeder nach Belieben seinen Geschäften nachgehen. Aber niemand macht es so gut wie ich, denn ich kann besser als jeder andere so hilflos wirken, als ob ich mein Leben nicht selbst verdienen könnte.»

«In der Tat hätte ich nie geglaubt, dass Ihr so gut sprechen könnt, wie ihr es jetzt tut.»

«Ja ja», lachte Trine, «du wolltest mich reinlegen und erschrecken, wenn du wie ein Werwolf verkleidet vom Baum gestiegen bist, weil du Brot wolltest. Ich hab so getan, als wenn ich Angst hätte, aber ich habe dich gleich erkannt und mir gesagt: sieh an, der arme Bursche. Der wird einmal nach Bärenbusch kommen und froh sein, wenn er meine Suppe isst.»

Darüber waren sie nun in Bärenbusch angekommen. So hieß der Ort, in dem die angeblich schwachsinnige Alte wohnte und den Emi ja schon gesehen hatte.

Keine Menschenseele war in diesem tristen Weiler zu sehen. Das Vieh weidete unbeaufsichtigt hier und da auf einer an Disteln fruchtbaren Heide, die das ganze Gemeindeland der Bewohner war. Der empörende Schmutz auf den morastigen Wegen, die als Gassen dienten, der widerliche Gestank, der aus allen Häusern drang, die zerrissene Wäsche, die zum Trocknen über die von den Hühnern besudelten Büsche gehängt war, die verfaulten Strohdächer, auf denen Brennnesseln wuchsen, die schmutzige Vernachlässigung, die vorgetäuschte oder freiwillige Armut, das alles erregte Emis Abscheu, der an Waldesgrün und Waldesduft gewöhnt war. Trotzdem folgte er der alten Trine in ihre Lehmhütte, die mehr einem Schweinestall als einer Wohnung glich. Innen sah sie jedoch ganz anders aus: die Wände waren mit Strohmatten verkleidet, im Bett lagen Matratze und gute Wolldecken. Dazu gab es Vorräte aller Art in großer Menge: Weizen, Speck, Gemüse und Obst, Weinfässer und sogar versiegelte Flaschen. Von allem war da, und hinter dem Haus war der Hühnerkäfig voller fetter Hühner und Enten, die mit Brot und Kleie gestopft wurden.

«Wie du siehst», sagte Trine zu Emi, «bin ich auf andere Weise reich als deine Tante. Sie gibt mir jede Woche ein Almosen. Wenn ich wollte, könnte ich schönere Kleider tragen als sie. Willst du meine Schränke sehen? Gehen wir wieder rein, du hast bestimmt Hunger, ich mache dir eine Mahlzeit, wie du noch keine in deinem Leben gegessen hast.»

Und wirklich, während Emi den Inhalt der Schränke bewunderte, machte die Alte Feuer und holte aus ihrem Bettelsack einen Ziegenkopf heraus, den sie mit Resten aller Art frikassierte; weder mit Salz noch mit ranziger Butter sparte sie dabei, auch nicht mit welkem Gemüse, dem Ertrag ihres letzten Beutezugs. Daraus machte sie, ich weiß nicht was für ein Gericht, das Emi mit mehr Staunen als Genuss aß und zu dem sie ihm eine halbe Flasche billigen starken Wein aufdrängte. Er hatte noch nie Wein getrunken, er schmeckte ihm nicht, aber er trank ihn trotzdem. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, trank die Alte eine ganze Flasche aus, bekam einen Rausch und wurde sehr gesprächig. Sie prahlte damit, dass sie noch besser stehlen als betteln könne und ging soweit, ihm ihre Geldkassette zu zeigen, die sie unter dem Herdstein vergraben hatte und die Goldstücke aller Prägungen des Jahrhunderts enthielt. Sie mochten gut zweitausend Franken wert sein. Emmi jedoch, der nicht zählen konnte, schätzte den Reichtum der Bettlerin nicht in dem Maß, wie sie gerne gewollt hätte.

Nachdem sie ihm alles gezeigt hatte, sagte sie:

«Jetzt wirst du mich wohl nicht mehr verlassen wollen, denke ich. Ich brauche einen Burschen, wenn du mir zu Diensten sein willst, setze ich dich zu meinem Erben ein.»

«Danke», antwortete das Kind, «ich will nicht betteln.»

«Na gut, seis drum, dann stielst du eben für mich.»

In Emi stieg der Ärger hoch, aber die Alte hatte davon gesprochen, ihn am nächsten Tag mit nach Mauvert zu nehmen, wo ein großer Markt abgehalten wurde. Da er sich gern im Land umsehen und die Gegenden sehen wollte, in denen man sein Leben ehrlich verdienen konnte, antwortete er, ohne seinen Ärger zu zeigen:

«Ich könnte gar nicht stehlen, ich habe es nie gelernt.»

«Du lügst», sagte Trine, «du stielst im Wald von Cernas sehr geschickt Wild und Früchte. Glaubst du denn, das gehört niemandem? Weißt du denn nicht, dass jeder, der nicht arbeitet, nur auf Kosten anderer leben kann? Schon lange ist dieser Wald sozusagen aufgegeben. Sein Besitzer war ein alter reicher Mann, der sich um nichts mehr kümmerte und ihn nicht einmal bewachen ließ. Jetzt ist er tot, und alles wird sich ändern. Verstecke dich nur in Baumlöchern wie eine Ratte, man wird dich am Kragen packen und ins Gefängnis stecken.»

«So so, aber warum wollt Ihr mir dann beibringen, für Euch zu stehlen?», fragte Emi.

«Weil – wenn man es kann, wird man nicht erwischt. Denk darüber nach, es ist spät, morgen müssen wir in aller Frühe aufstehen, wenn wir auf den Markt wollen. Ich richte dir ein Bett auf meiner Truhe, ein gutes Bett mit Federkissen und Zudeck. Zum ersten Mal in deinem Leben wirst du schlafen wie ein Prinz.»

Emi wagte keinen Einwand. Wenn die alte Trine nicht die Schwachsinnige mimte, war etwas Unheimliches in ihrem Blick und ihrer Stimme. Er legte sich hin und wunderte sich zunächst, wie wohl er sich fühlte. Aber schon bald wunderte er sich, wie schlecht er sich fühlte. Das dicke Federkissen erstickte ihn fast, von der Decke, dem Mangel an frischer Luft, dem Gestank aus der Küche und von dem Wein, den er getrunken hatte, bekam er Fieber. Ganz verstört stand er auf und sagte, er wolle draußen schlafen, er sterbe, wenn er die Nacht in dem geschlossenen Raum verbringen müsse.

Aber Trine schnarchte, und die Tür war fest verschlossen. Da fand er sich damit ab, auf dem Tisch ausgestreckt zu schlafen, und sehnte sich sehr nach seinem Moosbett in der Eiche.

Am nächsten Morgen drückte ihm Trine einen Korb mit Eiern und sechs Hühner in die Hand, die er verkaufen sollte. Sie befahl ihm, ihr in einigem Abstand zu folgen und so tun, als ob er sie nicht kenne.

«Wenn die Leute wüssten, dass ich verkaufe, gäben sie mir nichts mehr.»

Sie nannte ihm den Preis, den er verlangen müsse, ehe er seine Ware aus der Hand gab und fügte hinzu, dass sie ihn immer im Auge behalten werde, und wenn er ihr nicht ehrlich das Geld geben würde, dann hätte sie schon Mittel und Wege, ihn dazu zu zwingen.

«Wenn Ihr mir nicht traut, dann tragt Eure Ware doch selbst und lasst mich ziehen», antwortete Emi gekränkt.

«Versuche nicht zu fliehen», sagte die Alte. «Ich werde dich überall wieder finden. Keine Widerrede mehr! Gehorche!»

Er folgte ihr aus der Ferne, wie sie es angeordnet hatte. Bald bevölkerte sich der Weg mit Bettlern, einer abstoßender als der andere. Das waren die Bewohner von Bärenbusch, die an diesem Tag alle gemeinsam einen wundertätigen Brunnen aufsuchten, der sie heilen sollte. Alle waren sie Krüppel oder mit hässlichen Schwären bedeckt. Alle entstiegen sie dem Brunnen gesund und munter. Das Wunder war nicht schwer zu erklären, alle ihre Gebrechen waren vorgetäuscht, und nach einigen Wochen würden sie sie wieder annehmen, um am nächsten Festtag dann wieder geheilt zu werden.

Emi verkaufte seine Eier und Hühner, schnell brachte er der Alten das Geld, kehrte ihr den Rücken und mischte sich unter die Menge, wo er mit weit aufgerissenen Augen alles bewunderte und bestaunte. Er sah Gauklern zu, die erstaunliche Kunststücke vorführten; fast vergaß er die Zeit darüber, ihre paillettenbestickten Trikots und goldenen Bänder zu betrachten. Aber da hörte er neben sich ein merkwürdiges Gespräch. Es war die Stimme von Trine und die raue Stimme des Anführers der Gaukler, die miteinander sprachen. Nur durch die Stoffwand der Bude waren sie von ihm getrennt.

Trine sagte: «Wenn Ihr ihm Wein zu trinken gebt, dann könnt Ihr ihn zu allem überreden. Er ist ein harmloser Dummkopf, der mir zu nichts nütze ist, er behauptet, ganz allein im Wald zu leben, seit einem Jahr oben auf einem alten Baum. Er ist flink und geschickt wie ein Affe und wiegt nicht mehr als ein Zicklein. Ihr könnt ihn die schwierigsten Kunststücke machen lassen.»

«Und Ihr sagt, dass er nicht aufs Geld aus ist?», fragte der Gaukler.

«Nein, Geld bedeutet ihm nichts. Ihr gebt ihm zu essen, er ist zu einfältig, um nach mehr zu fragen.»

«Aber er wird fliehen wollen?»

«Ach was, mit einer Tracht Prügel treibt ihr ihm das aus.»

«Bringt ihn her. Ich will ihn mir anschauen.»

«Und ich bekomme zwanzig Franken?»

«Ja, wenn er mir gefällt.»

Trine kam aus der Bude und fand sich Auge in Auge mit Emi. Sie machte ihm ein Zeichen, dass er ihr folgen solle.

«O nein», sagte er, «ich habe Euren Handel mit angehört. So dumm, wie Ihr glaubt, bin ich nicht. Ich will doch nicht mit diesen Leuten gehen und dann geschlagen werden.»

«Und ob du mitgehst», antwortete Trine, packte ihn mit eisernem Griff am Handgelenk und zog in zu der Bude.

«Ich will nicht! Ich will nicht!», schrie das Kind und schlug um sich. Und mit seiner freien Hand klammerte es sich an den Kittel eines Mannes, der neben ihm stand und der Vorführung zusah.

Der Mann drehte sich um, wandte sich an Trine und fragte sie, ob der Kleine zu ihr gehöre.

«Nein, nein», rief Emi, «das ist nicht meine Mutter, mit der habe ich nichts zu tun, die will mich für einen Taler an die Schauspieler verkaufen!»

«Und du willst das wohl nicht?»

«Nein, das will ich nicht. Befreit mich aus ihrem Griff! Schaut doch! Die quält mich bis aufs Blut!

«Was ist denn hier los, mit dieser Frau da und mit dem Kind da?», fragte der schmucke Gendarm Erambert, den Emis Geschrei und Trines Gezeter herbeigerufen hatten.

«Ach, nichts», antwortete der Bauer, an dem sich Emi immer noch festklammerte. «Die arme Frau da will den Burschen an die Seiltänzer verkaufen. Aber wir werden sie schon daran hindern, Gendarm. Wir brauchen Sie nicht.»

«Die Polizei braucht man immer, guter Freund. Ich will wissen, was hier los ist.»

Er wandte sich an Emi.

«Sprich, junger Mann, erkläre mir die Sache.»

Als Trine den Gendarmen sah, ließ sie Emi los und versuchte zu fliehen. Aber der majestätische Erambert hatte sie schon am Arm gepackt. Sogleich nahm sie ihren schwachsinnigen Gesichtsausdruck an und grinste und grimassierte. In dem Moment jedoch, in dem Emi zu einer Antwort ansetzte, warf sie ihm einen flehentlichen Blick zu, in dem sich große Angst spiegelte. Emi war in der Furcht vor der Polizei erzogen worden und bildete sich ein, dass Erambert ihr mit seinem großen Säbel den Kopf abschneiden würde, wenn er sie verklagte. Da bekam er Mitleid mit ihr und antwortete:

«Lasst Sie laufen, Herr, die ist verrückt und blödsinnig, sie hat mich erschreckt, aber sie wollte mir nichts Böses antun.»

«Kennt Ihr sie? Ist das nicht die Trine? Die Frau, die immer nur so tut als ob? Sagt die Wahrheit!»

Ein neuerlicher Blick der Bettlerin gab Emi den Mut zu lügen, um ihr das Leben zu retten.

«Ja, ich kenne sie», sagte er, «das ist eine arme Törin.»

«Ich kriege schon noch raus, was mit ihr los ist», sagte der schmucke Gendarm und ließ Trine laufen. «Zieht ab, Alte, aber vergesst nicht, dass ich schon lange ein Auge auf Euch werfe.»

Trine verschwand, auch der Gendarm ging. Emi, der vor ihm noch größere Angst gehabt hatte als vor der Alten, hielt sich immer noch am Kittel von Vater Vinzenz fest. So hieß der Bauersmann, der sich zu seinem Schutz gefunden hatte. Er hatte ein gütiges fröhliches Gesicht.

«Jetzt aber, Kleiner, jetzt wirst du mich wohl loslassen? Du hast nichts mehr zu befürchten, was willst du von mir? Was zu essen? Geld?»

«Nein danke, aber ich habe Angst vor der Menge hier, ich bin ganz allein und weiß nicht, wohin ich gehen soll.»

«Wohin möchtest du denn? »

«Ich möchte heim in den Wald von Cernas, aber so, dass ich nicht durch Bärenbusch muss.»

«Du wohnst in Cernas? Da kann ich dich leicht hinbringen, denn von da aus gehe ich in den Wald. Du musst mir nur folgen. Ich gehe noch hier in den Wirtsgarten zum Essen, warte dort unter dem Wegkreuz, ich nehme dich dann mit.»

Nach Emis Gefühl war das Kreuz noch zu nahe an der Gauklerbude. Er wäre lieber mit Vater Vinzenz in den Wirtsgarten gegangen, und außerdem hatte auch er eine Stärkung nötig vor dem Heimweg.

«Wenn Ihr Euch nicht mit mir schämt, dann lasst mich doch bitte mein Brot und meinen Käse in Eurer Gesellschaft essen», sagte er. «Ich kann es bezahlen: seht hier meine Geldbörse, zahlt damit für uns beide, ich möchte gern auch Euer Essen bezahlen.»

«Teufel auch», rief Vater Vinzenz und lachte, «wirklich, du bist mir ein braver und großzügiger Bursche. Aber mein Magen ist leer, und deine Börse nicht voll. Komm, setz Dich hierher. Behalte dein Geld, Kleiner, ich hab genug für uns beide.»

Während sie zusammen aßen, ließ sich Vinzenz alles von Emi erzählen. Danach sagte er:

«Wie ich sehe, hast du einen klugen Kopf und ein gutes Herz, denn du hast dich nicht von den Goldstücken dieser Trine verführen lassen und vor allem hast du nicht gewollt, dass sie ins Gefängnis kommt. Vergiss sie, bleib in deinem Wald, wenn es dir dort gut geht. Du brauchst dort auch nicht mehr so allein zu sein. Du musst nämlich wissen, dass ich dort Unterkünfte für an die zwanzig Waldarbeiter errichten lasse, die das Unterholz zwischen Cernas und Planchette lichten sollen.»

«Ach! Ihr lasst den Wald fällen?», rief Emi bestürzt.

«Nein! Wir fällen nur in einer Gegend, die deine Zuflucht bei der sprechenden Eiche nicht betrifft, und ich weiß auch, dass man weder heute noch morgen das Gebiet der alten Bäume anrühren wird. Du kannst beruhigt sein, niemand wird dich stören. Aber, mein Kleiner, glaub mir, es wäre gut, wenn du bei uns mitarbeitest. Du bist noch nicht kräftig genug, um mit Hacke und Axt umzugehen, aber wenn du geschickt bist, dann kannst du die Schnüre herrichten und dich um das Bündelholz kümmern und den Arbeitern helfen, die immer einen Burschen für ihre Besorgungen und zum Essenholen brauchen können. Ich selber habe die Aufsicht über diesen Holzschlag. Die Arbeiter schaffen im Stücklohn, das heißt, sie werden nach dem bezahlt, was sie tun. Ich schlage dir vor, dass du mir die Beurteilung darüber überlässt, wieviel ich dir vernünftigerweise zahlen kann, und ich rate dir, damit einverstanden zu sein. Die alte Trine hatte ganz recht, wenn sie sagte, dass man stehlen oder betteln muss, wenn man nicht arbeiten will, und da du weder das eine noch das andere tun willst, nimm die Arbeit an, die ich dir biete, die Gelegenheit ist günstig.»

Emi nahm mit Freuden an. Vater Vinzenz flößte ihm unendliches Vertrauen ein. Er stellte sich ganz zu seiner Verfügung, gemeinsam machten sie sich auf den Weg in den Wald.

Als sie dort ankamen, war es schon dunkel, und obwohl Vater Vinzenz sich gut auskannte, hätte es ihm doch Schwierigkeiten bereitet, den Holzschlag zu finden, wenn ihn nicht Emi, der daran gewöhnt war, in der Nacht zu sehen wie eine Katze, auf dem kürzesten Weg hingeführt hätte. Sie fanden eine Schutzhütte vor, die ein paar Arbeiter schon am Abend aufgestellt hatten. Sie bestand aus Stangen, die mit Zweigen wie ein Giebel aufgestellt und mit großen Moos- und Grasplatten bedeckt waren. Emi wurde den Arbeitern vorgestellt und freundlich aufgenommen. Er aß heiße Suppe und schlief tief und fest.

Am nächsten Morgen begann er seine Lehre: Feueranzünden, Kochen, Töpfe abwaschen, Wasser holen und in der Zeit dazwischen half er beim Bau der neuen Hütten für die zwanzig anderen Arbeiter, die erwartet wurden. Vater Vinzenz, der alles befehligte und beaufsichtigte, verwunderte sich auf höchste, wie klug, geschickt und flink Emi war. Nicht er war es, der lernte, wie man aus nichts alles machen kann, nein, er brachte es noch den Schlauesten bei, und alle riefen aus, dass das kein Bursche sei, sondern ein Kobold, den ihnen die guten Waldgeister zu ihren Diensten geschickt haben. Da Emi mit all seinen Gaben und seinem Fleiß willig und bescheiden war, schlossen sie ihn ins Herz, und noch die ungehobelsten Holzfäller redeten freundlich mit ihm und verlangten nicht zu viel.

Nach fünf Tagen fragte Emi Bauer Vinzenz, ob er frei habe und den Sonntag da, wo er wolle, verbringen könne.

«Du hast frei», antwortete der rechtschaffene Mann, «aber wenn ich dir raten darf, so geh zu deiner Tante und den Leuten im Dorf. Wenn es stimmt, dass deine Tante nichts mehr mit dir zu tun haben will, so wird sie damit zufrieden sein, dass du dir dein Leben selbst, ohne ihr Zutun, verdienen kannst. Und wenn du Angst hast, dass man dich auf dem Hof verprügeln wird, weil du deine Herde im Stich gelassen hast, dann gehe ich zu deinem Schutz mit und besänftige die Leute. Glaub mir, mein Kind, Arbeit ist die beste Empfehlung, sie macht alles wieder gut.»

Emi bedankte sich für den guten Rat und befolgte ihn. Seine Tante, die gemeint hatte, er sei tot, erschrak bei seinem Anblick. Er erzählte seine Abenteuer nicht, sondern teilte ihr nur mit, dass er bei den Holzfällern arbeite und ihr nie mehr zur Last fallen werde. Bauer Vinzenz bestätigte alles und erklärte, dass er für ihn wie ein eigenes Kind sei und dass er große Stücke auf ihn halte. Das gleiche sagte er auch auf dem Hof, wo sie zum Essen und Trinken genötigt wurden. Auch Muhme Nanette kam herbei, um Emi vor aller Welt zu küssen und ihr gutes Herz zu zeigen, indem sie ihm ein paar alte Kleider und ein halbes Dutzend Käse schenkte. Kurz, als Emi mit dem alten Holzfäller wieder ging, war er versöhnt mit aller Welt und aller Schande und Vorwürfe ledig.

Nachdem sie die Heide durchquert hatten, sagte Emi zu Vinzenz:

«Würdet Ihr mir übel nehmen, wenn ich die Nacht auf meiner Eiche verbringe? Ich verspreche Euch, dass ich vor Sonnenaufgang beim Holzschlag bin.»

«Mach was du willst», antwortete der Holzfäller, «aber was ist das eigentlich für eine Idee, so hoch da oben zu wohnen?»

Emi erklärte ihm, dass er für diese Eiche eine treue Freundschaft empfinde, was sich der andere lächelnd anhörte; er wunderte sich ein bisschen über diesen Einfall, brachte ihm aber Wohlwollen und Verständnis entgegen. Er begleitete ihn und wollte sein Versteck sehen. Es fiel ihm schwer, so weit hoch zu klettern, dass er es sehen konnte. Zwar war er noch gelenkig und kräftig, aber der Durchschlupf zwischen den beiden Ästen war zu eng für ihn. Nur Emi kam überall durch.

«Das ist wirklich hübsch», sagte der Mann beim Hinunterklettern, «aber lange wirst du hier nicht mehr schlafen können: die Rinde wird immer weiter um das Loch herum wachsen und es schließlich ganz verschließen, und auch du wirst nicht immer so spindeldürr bleiben. Wenn du jedoch möchtest, könnte man den Spalt mit einer Hacke verbreitern; ich könnte dir das machen, wenn du es willst».

«Niemals!», rief Emi aus, «in meine Eiche hacken, dann stirbt sie doch!»

«Davon stirbt sie nicht. Wenn ein Baum in seinen kranken Teilen gut geschnitten wird, gedeiht er umso besser.»

«Na gut, reden wir ein andermal darüber», antwortete Emi.

Sie wünschten sich eine gute Nacht und gingen auseinander.

Wie glücklich war Emi, als er wieder sein Lager in Besitz nahm! Es kam ihm vor, als wäre er ein ganzes Jahr lang weg gewesen. Er dachte an die schreckliche Nacht, die er bei Trine verbracht hatte und stellte sehr richtige Überlegungen an über die verschiedenen Geschmäcker und Gewohnheiten. Er dachte auch an die Bettelleute in Bärenbusch, die sich für reich hielten, weil sie ein paar Taler in ihren Strohsäcken versteckt hielten, aber in Schande und Gestank lebten. Er jedoch, der allein lebte und nicht bettelte, er hatte über ein Jahr lang in einem Blätterpalast geschlafen, bei Veilchen- und Melissenduft, bei Nachtigallen- und Grasmückengesang. Er lebte ohne Sorgen, ohne Demütigung, Streit und Krankheit und war ohne Falsch und Arg.

«Alle die Leute in Bärenbusch, angefangen bei Trine, haben mehr Geld als nötig wäre, um sich kleine Häuser zu bauen, hübsche Gärten anzulegen und gesundes sauberes Vieh zu halten. Aber ihre Faulheit hindert sie daran, sich an dem, was sie haben, zu erfreuen, sie lassen sich gehen und verkommen in ihrer Schmach. Als ob sie stolz auf den Abscheu und die Verachtung wären, die sie erregen, machen sie sich über die guten Leute lustig, die Mitleid mit ihnen haben, sie stehlen bei den wirklich Armen, bei denen, die leiden ohne zu klagen. Sie verstecken sich zum Geldzählen und kommen um im Elend. Welch trauriger, schändlicher Wahnsinn. Wie recht hat doch Vater Vinzenz, wenn er sagt, dass es Arbeit ist, was die Lebensfreude aufrecht erhält und läutert!»

Emi, der sich fest vorgenommen hatte, nicht zu tief zu schlafen, wachte eine Stunde vor Tagesanbruch auf und schaute um sich. Der Mond war spät aufgegangen und stand noch am Himmel. Die Vögel rührten sich noch nicht. Die Eule zog ihre Kreise und war noch nicht zurück. Das Schweigen ist etwas Schönes, es ist selten im Wald, wo immer irgendein Lebewesen hinaufklettert oder ein Ding hinunterfällt. Emi sog dieses schöne Schweigen in sich ein wie ein Labsal und erinnerte sich dabei an den ohrenbetäubenden Lärm auf dem Jahrmarkt, an das Tam-Tam und die große Trommel der Gaukler, an die Wortwechsel der Käufer und Verkäufer, das Schnarren der Leiern und das Muhen der Dudelsäcke, an die Schreie der geärgerten oder erschreckten Tiere, die heiseren Gesänge der Betrunkenen, alles, was ihn sowohl erstaunt, erfreut als auch erschreckt hatte. Welch ein Unterschied zu den geheimnisvollen, unaufdringlichen oder erhabenen Stimmen des Waldes! Mit der Morgendämmerung kam ein leichter Wind auf, der die Baumwipfel melodisch erschauern ließ. Der Wipfel der Eiche schien zu sagen:

«Nur ruhig, Emi; sei ruhig und zufrieden, kleiner Emi.»

«Alle Bäume sprechen», hatte Trine gesagt.

«Das stimmt», dachte er, «alle haben ihre eigene Stimme und ihre eigene Art zu seufzen oder zu singen, aber diese Hexe meinte, sie wissen nicht, was sie sagen. Sie lügt. Die Bäume klagen oder freuen sich in aller Unschuld. Sie kann sie nicht verstehen, sie, die immer nur Böses denkt!»

Zur verabredeten Zeit war Emi beim Holzschlag; den ganzen Sommer und den ganzen Winter über arbeitete er dort. Jeden Samstagabend schlief er in seiner Eiche. Sonntags machte er einen kurzen Besuch bei den Bewohnern von Cernas und blieb dann bis zum Montagmorgen in seinem Baumlager. Er wurde größer, blieb aber dünn und leicht, er hielt sich sehr sauber und hatte einen aufgeweckten und liebenswerten Ausdruck in seinem hübschen Gesicht, der allen gefiel. Vater Vinzenz brachte ihm Lesen und Rechnen bei. Man hielt große Stücke von seinem Verstand, und seine Tante, die keine Kinder hatte, hätte ihn gerne bei sich behalten, um Ehre und Profit einzustreichen, denn er wusste überall Rat zu schaffen und schien sich auf alles zu verstehen.

Aber Emi liebte nur den Wald. Er hatte es dazu gebracht, in ihm Dinge zu sehen und zu hören, die niemand sonst sah und hörte. In den langen Winternächten liebte er den Kiefernwald am meisten, wo die Schneehäufchen auf den schwarzen Ästen entlang schöne große weiße Muster zeichneten, die weich auf ihnen lagen und die sich zu bewegen und geheimnisvoll zu unterhalten schienen, wenn ein leichter Wind sie wiegte. Die meiste Zeit schienen sie zu schlafen, und er betrachtete sie mit ehrfürchtiger Scheu. Er wagte nicht, ein Wort zu sagen, eine Bewegung zu machen, die die schönen Feen der Nacht und der Stille hätte wecken können. Im Halbdunkel der klaren Neumondnächte, wenn die Sterne wie Diamantenaugen funkelten, glaubte er die Gestalten dieser Märchenwesen wahrzunehmen, die Falten ihrer Gewänder, das Wallen ihres Silberhaars. Als das Tauwetter kam, änderten sie Aussehen und Haltung, er hörte sie mit einem feinen leichten Platsch von den Zweigen fallen, als wenn sie beim Berühren der Schneedecke auf dem Boden mit leichtem Schwung wieder woanders hin fliegen wollten.

Als das Eis den kleinen Bach in seinen Banden hielt, schlug er es auf, um trinken zu können, aber vorsichtig, damit er das Kristallbauwerk, das der kleine Wasserfall gebildet hatte, nicht zerstörte. Gern schaute er die Reifgirlanden entlang der langen Waldwege an und die in der untergehenden Sonne bunt schillernden Eiszapfen.

An manchen Abenden hob sich die durchscheinende Architektur der kahlen Bäume wie schwarze Spitze vom roten Himmel ab oder vom perlmuttfarbenen, vom Mond angestrahlten Wolkenhintergrund. Und erst im Sommer! Welch lebhaftes Lärmen! Welch Vogelgesang unter dem Blätterdach! Er machte Jagd auf die Nagetiere und Frettchen, die sich gierig über die Eier oder Vogeljungen in den Nestern hermachten. Dazu hatte er sich Pfeil und Bogen gemacht. Er war sehr geschickt geworden im Erlegen von Ratten und Schlangen. Dabei verschonte er die harmlosen schönen Nattern, die so anmutig übers Moos schlängelten und die niedlichen Eichhörnchen, die nur von den Kiefernsamen lebten, die sie so geschickt aus den Zapfen holen konnten.

Er hatte die zahlreichen Bewohner seiner alten Eiche so gut beschützt, dass alle ihn kannten und es zuließen, dass er sich mitten unter ihnen bewegte. Er glaubte zu verstehen, dass sich die Nachtigall bei ihm dafür bedankte, dass er ihr Nest gerettet hatte und ausdrücklich für ihn ihre schönsten Lieder sang. Den Ameisen erlaubte er nicht, sich in seiner Nachbarschaft niederzulassen, aber er gestattete, dass der Buntspecht das Holz bearbeitete, um die schädlichen Insekten, die es zerstören würden, herauszuholen. Er machte Jagd auf die Läuse im Laub. Die gefräßigen Maikäfer fanden keine Gnade vor ihm. Jeden Sonntag veranstaltete er einen Großputz für seine Eiche, und in der Tat war es der Eiche nie so gut gegangen, nie war ihr Blätterwerk so üppig und von so frischem Grün gewesen. Emi sammelte die gesündesten Eicheln auf und steckte sie in das benachbarte Heideland, wo er sie in ihrer ersten Kindheit pflegte und verhinderte, dass Heidekraut und Teufelszwirn sie überwucherten.

Mit den Hasen hatte er Freundschaft geschlossen, er erlegte sie nicht mehr, um sie zu essen. Von seinem Baum aus sah er zu, wie sie über den Quendel tanzten, wie sie sich wie müde Hunde auf die Seite legten und urplötzlich mit drolliger Grazie in die Höhe sprangen, wenn ein welkes Blatt herunterfiel, dann gleich wieder reglos stehen blieben, als wenn sie, nachdem sie sich der Angst hingegeben hatten, nun nachdenken wollten. Wenn er an heißen Tagen spazierenging und das Bedürfnis nach einer Pause spürte, kletterte er auf den nächstbesten Baum, und wenn er sich ein Ruheplätzchen ausgewählt hatte, hörte er die Ringeltauben, die ihn mit ihrem eintönigen zärtlichen Gurren in den Schlaf wiegten. Aber er war heikel mit seinen Ruhebetten – nur in seiner Eiche schlief er wirklich gut.

Als der Holzschlag beendet und aufgehoben war, musste er jedoch seinen lieben Wald verlassen. Er schloss sich Vater Vinzenz an, der fünf Meilen weiter weg in die Gegend von Bärenbusch ging, um in einem anderen Besitztum einen anderen Holzschlag zu übernehmen.

Seit dem Markttag war Emi nicht mehr in dieser üblen Gegend gewesen und hatte auch Trine nicht mehr gesehen. Ob sie gestorben war? Oder im Gefängnis? Niemand wusste es. Viele Bettler verschwinden einfach so, ohne dass man sagen könnte, was aus ihnen geworden ist. Niemand sucht sie, keiner vermisst sie.

Emi war ein guter Mensch. Er hatte die Zeit nicht vergessen, in der er völlig einsam war und wo er sie jede Woche unter seiner Eiche gesehen hatte; damals hatte er sie für blöde und elend gehalten, und sie brachte ihm Brot, an dem es ihm mangelte und sie ließ ihn die menschliche Stimme hören. Er vertraute Vater Vinzenz an, dass er gerne wüsste, was aus ihr geworden ist, deshalb machten sie Halt in Bärenbusch, um sich nach ihr zu erkundigen. Es war gerade Festtag in diesem Wunderhof*. Alle tranken sich zu und sangen, sie stießen mit ihren Bechern an. Zwei Frauen mit aufgelöstem, im Wind flatternden Haar rauften miteinander vor einer Tür, die Kinder wateten im stinkigen Morast. Sobald die zwei Fremden auftauchten, stieben sie wie eine Schar wilder Enten auseinander. Durch ihre Flucht wurden die Bewohner der Reihe nach gewarnt. Der Lärm verstummte, die Türen gingen zu. Das aufgescheuchte Federvieh verkroch sich in den Büschen.

Bauer Vinzenz sagte: «Die Leute wollen offenbar nicht, dass wir ihre Belustigungen sehen; da du die Wohnung von Trine kennst, gehen wir doch gleich hin.»

Sie klopften mehrere Male, niemand antwortete. Endlich rief eine heisere Stimme “herein“ und sie stießen die Tür auf. Da saß die Trine, blass, mager, erschreckend, auf einem großen Stuhl am Feuer, die abgemagerten Hände auf die Knie gepresst. Als sie Emi erkannte, drückte ihr Blick Freude aus.

«Endlich kommst du», sagte sie, «nun kann ich in Ruhe sterben!»

Sie erklärte ihnen, dass sie gelähmt sei und dass ihre Nachbarinnen ihr morgens beim Aufstehen und abends beim Zubettgehen zu Hilfe kommen und ihr zu essen bringen.

«Es fehlt mir an nichts», fügte sie hinzu, «aber ich habe eine große Sorge. Es geht um mein armes Geld da unter dem Stein, auf dem meine Füße sind. Dieses Geld habe ich Emi zugedacht, er hat ein gutes Herz, er hat mich vor dem Gefängnis bewahrt, als ich ihn an schlechte Menschen verkaufen wollte. Aber sobald ich tot bin, werden meine Nachbarinnen hier überall graben und meinen Schatz finden: das ist es, was mir den Schlaf raubt, und deswegen kann ich mich nicht so, wie es nötig wäre, versorgen lassen. Emi, du musst dieses Geld nehmen und weit weg von hier schaffen. Wenn ich sterbe, sollst du es behalten, ich schenke es dir. Habe ich das nicht versprochen? Wenn ich wieder gesund werde, bringst du es mir wieder. Du bist ehrlich, ich kenne sich. Es soll immer dir gehören, aber ich hätte dann das Vergnügen, es anzuschauen und zu zählen, bis zu meinem letzten Stündchen.»

Erst weigerte sich Emi. Es war gestohlenes Geld, das widerstand ihm. Aber Vater Vinzenz bot Trine an, dass er sich darum kümmere und ihr das Geld auf ihr leisestes Verlangen zurückgebe oder dass er es auf Emis Namen anlege, falls sie sterben sollte, ohne es zurückgefordert zu haben. Vater Vinzenz war im ganzen Land als rechtschaffener Mann bekannt, der auf ehrliche Weise zu Wohlstand gekommen war. Trine, die weit herumgekommen war und alles mitgekriegt hatte, wusste wohl, dass man ihm vertrauen konnte. Sie bat ihn, den Türriegel ihrer Hütte fest zu verschließen, ihren Stuhl wegzurücken, da sie sich allein nicht bewegen konnte und den Herdstein hochzuheben. Sie hatte viel mehr, als sie damals Emi gezeigt hatte. Es waren fünf Lederbörsen und ungefähr fünftausend Goldfranken. Für sich selbst wollte sie nur dreihundert Silberfranken behalten, um die Nachbarn für ihre Pflege damit zu bezahlen und ihre Beerdigung.

Als Emi diesen Schatz voll Verachtung anschaute, sagte sie:

«Später einmal wirst du einsehen, dass Not ein schlimmes Übel ist. Wenn ich nicht in diesem Übel geboren worden wäre, hätte ich nicht so gehandelt, wie ich es habe.»

«Wenn Ihr es bereut, wird Euch Gott vergeben», sagte Vater Vinzenz.

«Ich bereue es, seit ich gelähmt bin», sagte Trine, «denn ich sterbe in Langeweile und Einsamkeit. Meine Nachbarn sind mir so zuwider wie ich ihnen. Jetzt denke ich, dass ich besser daran getan hätte, ein anderes Leben zu führen.»

Emi versprach ihr, sie wieder zu besuchen und ging mit Vater Vinzenz zu seiner neuen Arbeitsstelle. Wohl hatte er ein wenig Sehnsucht nach seinem Wald von Cernas, aber er war pflichtbewusst und ging treu seiner Arbeit nach. Nach acht Tagen ging er wieder zu Trine. Er kam gerade dazu, als man ihre Bahre auf einen kleinen Eselskarren lud. Emi folgte ihr bis in das Pfarrdorf, das eine Viertelmeile entfernt war und nahm an ihrer Beerdigung teil. Auf dem Rückweg sah er, dass alles bei ihr geplündert war und dass sich die Leute um ihre alten Lumpen schlugen. Da bereute er es nicht mehr, diesen schlechten Menschen ihren Schatz entwendet zu haben.

Als er vom Holzschlag zurück war, sagte Vater Vinzenz:

«Du bist noch zu jung für all dieses Geld. Du könntest keinen Nutzen daraus ziehen oder es wird dir gestohlen. Wenn du mit mir als Vormund einverstanden bist, lege ich es auf das Beste an und zahle dir bis zu deiner Volljährigkeit deinen Unterhalt davon aus.»

«Tut, wie Euch beliebt», antwortete Emi, «ich verlasse mich auf Euch. Wenn es aber doch gestohlenes Geld ist, wie die Alte geprahlt hat, sollte man dann nicht lieber versuchen, es zurückzugeben?»

«Wem denn? Das ist Pfennig für Pfennig zusammen gestohlen, denn diese Frau erhielt Almosen, weil sie alle Welt betrogen hat, sie hat mal hier, mal da, bei wer weiß wem, irgendetwas stibitzt, kein Mensch denkt daran, es zurückzufordern. Das Geld trifft keine Schuld, schämen muss sich, wer schlechten Gebrauch davon macht. Die Trine war ein Bankert, sie hatte keine Familie und hinterlässt keine Erben. Sie vermacht dir ihre Habe, nicht zum Dank dafür, dass du etwas schlimmes gemacht hast, sondern im Gegenteil, weil du ihr das Schlimme, das sie dir antun wollte, vergeben hast. Ich bin also der Meinung, dass du dir diese Erbschaft redlich verdient hast, und indem die Alte sie dir vermacht hat, hat sie die einzig gute Tat in ihrem Leben vollbracht. Ich will dir nicht verheimlichen, dass du mit dem Unterhalt, den ich dir auszahlen werde, die Mittel hättest, nicht mehr viel arbeiten zu müssen. Aber wenn du, wie ich glaube, ein rechter Kerl bist, dann arbeitest du weiterhin so fleißig, als wenn du nichts hättest.»

«Ich mache, was Ihr mir ratet», antwortete Emi, «wenn ich nur bei Euch bleiben kann und Eure Befehle befolgen.»

Der gute Junge brauchte das Vertrauen und die Freundschaft, die er seinem Meister gegenüber empfand, nicht zu bereuen. Er wurde von ihm behandelt wie ein Sohn von einem guten Vater. Als er erwachsen war, heiratete er eine Enkelin des alten Holzfällers, und da er sein Kapital, das die Zinsen Jahr für Jahr noch vergrößert hatten, nicht angerührt hatte, konnte er für einen Bauern dazumal als reich gelten. Seine Frau war hübsch, tüchtig und gut. Überall im Land machte man viel Aufhebens von diesem jungen Haushalt, und als Emi sich das nötige Wissen angeeignet hatte und Klugheit auf seinem Gebiet bewies, machte ihn der Besitzer des Waldes von Cernas zu seinem Oberaufseher und ließ an der schönsten Stelle im alten Hochwald, ganz nahe bei der sprechenden Eiche, ein schönes Haus für ihn bauen.

Was Bauer Vinzenz vorausgesagt hatte, war eingetroffen: Emi war zu groß für seine frühere Unterkunft geworden. Die Eiche hatte so viel Rinde gebildet, dass der Schlupfwinkel fast verschlossen war. Als Emi alt geworden war und sah, dass sich der Ritz bald völlig schließen wird, schrieb er mit eisernem Griffel auf eine Kupfertafel seinen Namen, die Zeit seines Aufenthalts im Baum und die wichtigsten Umstände seines Lebens. Er schloss mit dieser Bitte: «Feuer des Himmels und Wind der Berge, verschont meine Freundin, die alte Eiche. Lasst sie meine Enkelkinder heranwachsen sehen und auch noch deren Nachkommen. Alte Eiche, die du mit mir gesprochen hast, sag auch ihnen manchmal ein gutes Wort, damit auch sie dich immer so lieben wie ich dich geliebt habe.»

Diese Tafel warf er in das Loch, in dem er so lange geschlafen und nachgedacht hatte.

Der Spalt hat sich ganz und gar geschlossen. Emi ist nicht mehr am Leben, aber der Baum lebt noch immer. Er spricht nicht mehr, oder, falls er spricht, gibt es keine Ohren mehr, die ihn verstehen. Niemand hat mehr Angst vor ihm, aber die Geschichte von Emi ist weithin bekannt, und dank des guten Andenkens, das er hinterlassen hat, wird die Eiche immer noch geschätzt und verehrt.

 

 

 

 

 

 

 

aus: George Sand, Contes d’une Grand-mère, Les Editions de l’Aurore, 1983, Deuxième série (geschrieben 1875).

 

 

 

*S. 25 Wunderhof: «La Cour des Miracles» s. Victor Hugo, Der Glöckner von Notre Dame, 6.Kapitel, Der zerbrochene Krug: «Und dann, je weiter er in die Straße vordrang, desto größer wurde die Anzahl der Wackelsteiße, der Blinden und Lahmen, die um ihn her trabten, und der Einarmigen, Einäugigen und Aussätzigen mit ihren Wunden … «Wo bin ich?» rief der von Entsetzen gepackte Poet. – «Im Wunderhofe», antwortete ein viertes Gespenst… » (Ausgabe Berlin 1951, übersetzt von Philipp Wander)

 

Illustrationen (aus dem Internet):

S. 3: Knollenplatterbse: Wikipedia – Deaflora – Erdnuss-Platterbse

Lathyrus tuberosus: Erdeichel, Knollige Platterbes, Erdnuss-Pl.

Hieronymus Bock: Kreuter Buch. Straßburg 1551 (Internet: Universitätsbibliothek Salzburg)

S. 5, 11: Internationales Baumarchiv Winterthur, Verena Eggmann, 1992 [Hexeneiche, Italien], (aus: Magie der Bäume, Fondation Beyeler, 1998)