Flügel des Mutes

Für Aurore und Gabrielle

Diesmal, meine lieben kleinen Fräulein, ist es eine lange Geschichte, aber das habt Ihr Euch ja gewünscht. Wenn Ihr beim Zuhören einschlaft, machen wir ein anderes mal weiter, aber nur, wenn Ihr den Anfang noch wisst. […] Nehmt Euer Strickzeug oder Euren Scherenschnitt zur Hand, seid brav, aber unterbrecht, wenn Ihr etwas nicht verstanden habt. Ich werde es dann in der gesprochenen Sprache erklären, die immer einfacher ist als die geschriebene. Ihr möchtet, dass Wunderbares vorkommt in meiner Erzählung. Ein bisschen ist das der Fall, aber es soll auch viel Wahres vorkommen, das viele Menschen nicht kennen und Ihr werdet Euch nicht darüber ärgern, auch nicht Eure Vettern, die dabei sind. Die Natur ist eine Fundgrube von Wundern, meine lieben Kinder, und immer, wenn man auch nur ein bisschen die Nase hineinsteckt, ist man erstaunt darüber, was sie einem alles offenbart.

Nohant, Oktober 1872

 

Flügel des Mutes

I

Im Pays d’Auge, bei Saint-Pierre d’Azif, drei Meilen vom Meer entfernt, lebte einmal ein rechtschaffener Bauer mit seiner Frau, die dank ihrer Arbeit wohlhabend geworden waren. Damals, also vor etwa hundert Jahren[1], war das Land dort noch nicht sehr gut bewirtschaftet. Es gab Gras und wieder Gras, darauf Apfelbäume und wieder Apfelbäume; ein unabsehbar großes ganz flaches Land; ab und zu ein Nussbaumwäldchen mit einem kleinen Garten und einem strohgedeckten Holzhaus, denn Steine waren selten. Man hielt also schöne Kühe, machte ausgezeichnete Butter und weithin berühmten Käse; aber da es keine richtigen Straßen gab, keine Eisenbahn und auch noch nicht all die schönen Landhäuser, die man heutzutage sieht, so fehlte es einem Bauern dort an Ideen und Erfindungsgabe, um die Produkte der Erde besser oder abwechslungsreicher zu machen.

Der Bauer, von dem ich Euch erzähle, hieß Liebig und seine Frau nannte man Mutter Lieb. Sie hatten ein paar Kinder, die alle genauso arbeiteten wie sie selbst, sich nichts darüber hinaus ausdachten und sich über nichts beklagten, alle waren sehr brav, sehr sanft, sehr gleichmütig, nichts machten sie schnell, aber immer machten sie etwas, und so konnten sie auf die Dauer immer etwas Geld beiseite legen, von dem sie dann Land kauften.

Nur einer war darunter, der hinkte, deshalb wurde er Clopinet, Hinkebein, genannt; er arbeitete nicht, oder fast nicht. Nicht, weil er schwach oder krank gewesen wäre, er war frisch und stark trotz seines Hinkens und hatte ein hübsches rosiges Apfelgesicht. Er war auch nicht ungehorsam oder faul, er war ohne Arg und scheute keine Anstrengung, aber er war von einer Idee besessen, und zwar von der Idee, Matrose zu werden. Wenn man ihn gefragt hätte, was das denn sei, ein Matrose, dann hätte er große Mühe gehabt, es zu sagen, denn er war kaum zehn Jahre alt, als diese Idee von ihm Besitz ergriffen hatte, und hört nun, wie das zugegangen ist.

Er hatte einen Onkel, den Bruder seiner Mutter, der in blutjungen Jahren auf ein Handelsschiff gegangen war und viele Länder gesehen hatte. Dieser Onkel, der bei Trouville wohnte, kam immer wieder einmal zu den Liebigs auf Besuch, und dann erzählte er viele ungewöhnliche Geschichten, die vielleicht nicht alle wahr waren, an denen Clopinet aber überhaupt nicht zweifelte, so schön erschienen sie ihm. Da hat sich die Idee in ihm festgesetzt, zu reisen, und er hatte große Lust, zur See zu fahren, zumal er sie noch nie gesehen hatte und nicht so genau wusste, was das eigentlich war.

Das Meer war jedoch nicht weit entfernt, er hätte gut bis dahin gehen können, sein Hinken war kein Hinderungsgrund; aber sein Vater scherte sich nicht um seine Reiselust, und es war damals auch nicht üblich, sich ohne triftigen Grund aus seiner Gegend wegzugehen. Die älteren Brüder gingen auf die Messen und Märkte, wenn man etwas brauchte. Dann hüteten und versorgten die jüngeren Geschwister das Vieh; Clopinet hatte nie Gelegenheit, weg zu gehen. Allmählich langweilte er sich und wurde zum Träumer. Wenn er seine Tiere hütete, so flocht er keine Weidenkörbchen zu seiner Zerstreuung oder baute Häuschen aus Erde und Holzstücken, nein, er schaute den Wolken zu und vor allem den Zugvögeln, die zum Meer hin flogen oder von ihm kamen. «Sind die glücklich», sagte er sich, «die haben Flügel und fliegen hin, wo es ihnen gefällt. Sie sehen, wie die Welt gemacht ist, und nie haben sie Langeweile.»

Da er immer die Vögel beobachtete, kannte er sie am Flug, so hoch sie auch am Himmel sein mochten. Er kannte ihre Reisegewohnheiten, wusste, wie die Kraniche einen Pfeil bilden, um die Luft zu durchstoßen, wie die Stare im Schwarm dicht beieinander fliegen, wie die Raubvögel schweben, wie sich die Wildgänse in einer Linie mit gleichen Abständen folgen. Er freute sich immer, wenn die Zugvögel ankamen und oft versuchte er, so schnell zu rennen wie sie flogen, aber vergeblich: wenn er gerade zehn Schritte gemacht hatte, hatten sie schon eine Meile zurückgelegt, und er verlor sie aus den Augen.

Vielleicht lag es am Hinken oder auch daran, dass er von Natur aus nicht sehr tapfer war, jedenfalls entfernte sich Hinkebein kaum vom Haus und tat nichts, um seinen Mut seiner Neugierde anzugleichen. Als einmal wieder der Onkel Matrose zu Besuch kam und Hinkebein davon sprach, mit ihm ans Meer zu gehen, wenn sein Papa es ihm erlaube, da sagte Vater Liebig lachend:

«Du? Schweig still! Du kannst nicht laufen und du hast Angst vor allem. Belastet Euch nie mit diesem Buben da, Schwager! Der ist schwächlich und ein Hasenfuß. Letztes Jahr hat er sich einen ganzen Tag in den Reisigbündeln versteckt, weil ein schmutziger Schornsteinfeger vorbeigekommen ist und er ihn für den Teufel gehalten hat. Er schreit jedesmal, wenn er den Schneider sieht, der ins Haus kommt, um unsere Kleider zu flicken, weil er einen Buckel hat. Ein knurrender Hund, eine Kuh, die ihn anschaut, ein Apfel, der herunterfällt, schon rennt er davon. Man kann wohl von ihm sagen, dass er mit Flügeln der Angst an den Schultern auf die Welt gekommen ist.»

«Das geht vorbei, das geht vorbei», antwortete Onkel Laquille, so hieß der Matrose. «Als Kind hat man Flügel der Angst; später wachsen einem dann andere.»

Über diese Worte wunderte sich der kleine Clopinet sehr.

«Ich habe keine Flügel», sagte er, «mein Papa macht sich lustig, aber vielleicht wachsen mir welche, wenn ich zur See fahre!»

«Dann müsste dein Onkel ja welche haben», sagte Vater Liebig, «lass sie dir doch zeigen!»

«Ich habe welche, wenn ich sie brauche», antwortete der Matrose bescheiden, «aber das sind Flügel des Mutes, mit denen man in Gefahr fliegen kann.»

Clopinet gefielen diese Worte gut, er vergaß sie nie; aber Vater Liebig dämpfte den Stolz seines Schwagers, indem er sagte: «Ich behaupte nicht, dass du keine Flügel hast, wenn du deine Pflicht tust, aber sobald du heimkommst, dann bist du nicht mehr so stolz, deine Frau beschneidet sie dir.»

Das sagte Vater Liebig, weil Mutter Laquille die Hosen anhatte, wohingegen Mutter Lieb ganz so war wie ihr Name sagte und sich völlig ihrem Mann unterordnete.

Deshalb wagte die gute Frau auch nicht, Clopinet in der Idee zu ermutigen, von der der Vater nichts wissen wollte. Der sagte, der Seemannsberuf sei zu schwer für einen Knaben, bei dem ein Bein schwächer ist als das andere; er fügte sogar noch hinzu, dass Hinkebein, trotz seiner guten Gesundheit, nie zu einem kräftigen Mann werden würde, der die Erde umgraben könne, und dass er den Beruf eines Schneiders erlernen müsse, was ein gutes Gewerbe auf dem Lande sei.

Als eines Tages der Schneider wie üblich wieder ins Haus gekommen war, sagte Vater Liebig zu ihm:

«Linkerhand, (so nannte man den Schneider, weil er Linkshänder war und andersherum nähte), mein Freund, in diesem Jahr haben wir keine Arbeit für dich. Aber hier ist einer, der gern deinen Beruf erlernen würde. Ich bezahle etwas für seine Lehrzeit, wenn du vernünftig und mit dem zufrieden bist, was ich dir biete. Schon in einem Jahr kann er dir helfen, Besorgungen erledigen, eben dein kleiner Diener sein und bei dir seinen Lebensunterhalt verdienen.»

«Wieviel wollt Ihr mir denn geben?», fragte der Schneider und schaute Clopinet aus dem Augenwinkel an, mit leicht verächtlicher Miene, wie wenn er schon im Voraus die Ware schlecht machen wollte.

Der Bauer und der Schneider redeten mit leiser Stimme über ihren Handel und hörten schließlich bei zwei Talern Differenz auf; Clopinet war sprachlos, denn nie hatte er auch nur die geringste Lust verspürt, das Nähen und Schneidern zu erlernen. Er versuchte, den Meister mit ruhigem Blut anzuschauen, dem er gerade verkauft werden sollte. Das war ein kleiner Mann mit einem Buckel an beiden Schultern, er schielte auf beiden Augen und hinkte mit beiden Beinen. Wenn man ihn gerade auseinanderwinden und flach auf einen Tisch hätte legen können, wäre er groß gewesen; aber er war so verkrüppelt und so verwachsen, dass er beim Laufen nicht größer war als Clopinet, der doch erst zwölf Jahre und nicht sehr groß für sein Alter war. Linkerhand mochte an die Fünfzig sein. Sein ungeheuer langer Kopf, gelb und kahl, erinnerte an eine dicke Gurke. Er trug schmutzige Lumpen, die er für seine Flickarbeiten nicht mehr brauchen konnte und die man auf den Mist geworfen hätte, wenn er sie nicht beansprucht hätte; am schrecklichsten an ihm waren jedoch Füße und Hände, die übermäßig lang und ständig in Bewegung waren, und mit diesen Spindelarmen und Winkelbeinen arbeitete und lief er schneller als jeder andere. Man konnte mit dem Auge beim Nähen kaum seiner blitzschnellen Nadel folgen, und auch nicht der Staubwolke, die er aufwirbelte, wenn er dicht über dem Boden dahin rannte.

Clopinet hatte Linkerhand schon einige Male gesehen, und jedes Mal sehr hässlich gefunden; aber an diesem Tag fand er ihn ganz furchtbar, und die Angst, die er schon immer vor ihm gehabt hatte, wurde so groß, dass er davon gelaufen wäre, hätte er nicht an die Flügel der Angst gedacht, die ihm sein Vater vorgeworfen hatte.

Der Handel wurde durch Handschlag besiegelt, Liebig und der Schneider tranken sich zu mit einem halben Krug Apfelwein, der Mutter hatten sie Bescheid gesagt, wortlos ging sie in das andere Zimmer, um das Bündel für ihr armes Kind zu schnüren, das ihr der Schneider für drei Jahre wegnehmen sollte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Clopinet noch nicht kapiert, was mit ihm geschah. Freilich war schon einige Male die Rede davon gewesen, ihm einen Beruf zu verschaffen, für den er die Hände brauchte, da sein Bein schwach war, aber er hatte nicht gedacht, dass das so früh der Fall sein sollte und gegen seinen Willen. Den Vater Lügen strafen, sich ihm widersetzen, das kam ihm nicht einmal in den Sinn, denn er war sanft und gehorsam, und noch glaubte er, dass nichts ohne seine Einwilligung entschieden werde; als er jedoch sah, dass seine Mutter ohne ihn anzuschauen aus dem Zimmer kam, als wenn sie fürchtete, vor ihm in Tränen auszubrechen, da begriff er sein Unglück; er ging zu ihr hin und wollte sie bitten, ihn zu retten.

Aber es blieb ihm nicht die Zeit dazu. Schon streckte der Schneider die Arme aus und packte ihn so wie eine Spinne eine Fliege packt; dann pflanzte er ihn auf seinen hinteren Buckel und presste seine Beine zusammen, die er vorne auf den Buckel gelegt hatte, stand auf und sagte zu Vater Liebig:

«Also gut, abgemacht. Lassen wir die Mutter weinen, sie wird nicht so arg weinen, wenn sie ihn nicht mehr sieht. Sie hat eine Stunde Zeit, seinen Kram zu packen; den schickt Ihr mir morgen nach Dives, da werde ich drei Tage bleiben. Und Du, Kleiner, gib Ruhe, weine nicht, sonst schneide ich dir mit meinen schönen Scheren, du siehst sie ja an meinem Gürtel baumeln, die Zunge ab.»

«Behandelt ihn gut», sagte der Vater. «Er ist nicht böse und wird Euch immer zu Willen sein».

«Schon recht, schon recht», antwortete der Schneider, «macht Euch keine Sorgen um ihn, ich werde schon einig mit ihm. Los jetzt, los! Werdet nicht weich, sonst nehme ich ihn nicht.»

«Lasst ihn mich wenigstens küssen», sagte Vater Liebig, «ein Kind, das weg geht…»

«Na, Ihr seht ihn ja wieder. Er wird mit mir zusammen bei Euch arbeiten. Guten Tag, guten Tag nun, keine Szene, keine Tränen, oder ich lasse ihn Euch. Für das, was Ihr mir für ihn bezahlt, lege ich sowieso keinen großen Wert mehr auf ihn.»

Unter diesen Worten ging Linkerhand zur Türe hinaus und rannte, Clopinet auf dem Rücken, durch die Apfelbäume hindurch davon. Das Kind wollte schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, vor Angst klapperte er mit den Zähnen. Ängstlich drehte er sich zum Haus um. Sein Kummer bestand nicht darin, dass er gehorchen musste, auch nicht, dass er seine Eltern nicht küssen und ihnen ade sagen konnte, nein, die Grausamkeit an sich war es, die er nicht verstehen konnte. Er sah, wie seine Mutter vor die Türe lief und die Arme nach ihm ausstreckte. Unterdrückt schluchzend konnte er gerade noch «Mama» rufen; sie machte einige Schritte auf ihn zu, als ob sie ihn einholen wollte, aber der Vater hielt sie zurück. Totenblass sank sie in die Arme von Franz, ihrem ältesten Sohn, der aus lauter Kummer fluchte und dem Schneider drohend die Faust hinreckte. Linkerhand lachte nur darüber, ein schreckliches Lachen, es klang, wie wenn man in einen Stein sägt, er ging noch schneller mit seinem unglaublichen Riesenschritt, dem kein Mensch folgen konnte.

Clopinet glaubte, dass seine Mutter tot sei, und da er einsah, dass es keine Rettung für ihn gab, wollte er auch sterben, er ließ seinen Kopf auf die monströse Schulter des Schneiders fallen und verlor die Besinnung.

Der Schneider, dem er zu schwer wurde und der meinte, er sei eingeschlafen, setzte ihn auf seinen Esel, der auf der Wiese geweidet hatte, und der genauso klein, genauso hässlich und genauso bucklig war wie er selbst. Er versetzte ihm einen heftigen Tritt, damit er loslaufe, und hielt erst drei Meilen weiter in den Dünen wieder an.

Da legte er sich zu einem Schläfchen hin, ohne sich darum zu kümmern, ob das Kind schlafe oder ob es krank war. Als Clopinet zu sich kam und die Augen öffnete, meinte er allein zu sein, er schaute um sich, wusste aber nicht, wo er war. Es war eine seltsame Gegend, die er noch nie gesehen hatte und die keiner anderen ähnelte. Sie war wie eingeschlossen in eine Mulde mit breitem, rauem Gras, das in dicken Büscheln auf unebenem Gelände wuchs, überall ragten höckrige Stellen heraus. Das waren Risse in den großen grauen Mergelhügeln, die sich zwischen Villers und Beuzeval am Meeresufer erstrecken und die das Meer den Blicken verbergen, wenn man mitten in ihnen entlang geht. Clopinet staunte ein wenig, dann fiel ihm seine Entführung durch den Schneider wieder ein und sein Herz zog sich zusammen. Aber er war vor Freude außer sich, weil er meinte, dass der Schneider ihn zurückgelassen habe und dass er nach einigem Suchen den Weg nach Hause wieder finden würde.

Wie gedacht, so getan. Er stand auf und machte ein paar Schritte auf dem ziemlich breiten Weg, der vor ihm lag. Aber schreckerstarrt blieb er stehen, zwei Schritte von sich sah er Linkerhand liegen, mit einem Auge schlief er, mit dem anderen überwachte er jede seiner Bewegungen. Ein wenig weiter weg graste der Esel.

Sofort legte sich Clopinet wieder hin und hielt sich still, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug. Plötzlich hörte er deutlich ein Murren, als wenn ein Rabe in der Nähe gekrächzt hätte. Er drehte sich um und sah, dass der Schneider schnarchte und ganz fest schlief, obwohl ein Auge offen war. Das war so seine Gewohnheit, dieses aufgerissene Auge ging nicht mehr zu. Aber deshalb schlief er trotzdem tief. Er war müde und es war heiß.

Clopinet rutschte auf Knien bis zu ihm hin, immer noch verschreckt von diesem hässlichen Auge, das ihn anstarrte. Er hielt seine Hand davor, das Auge rührte sich nicht, das Auge sah ihn nicht. Also rutschte das Kind immer noch auf Knien aus der Mulde heraus, ging dann den Weg entlang und geriet in eine andere, größere Mulde, die der Weg ebenfalls durchquerte. Nun zog er seine Holzschuhe aus und ließ sie zurück, damit er schneller rennen konnte, verließ abrupt den Weg und sprang ins Gras, erreichte die Höhe und rannte sie so schnell wie ein Hase hinunter, in dichtem Gestrüpp und hohem Kraut, in dem er verschwand, es reichte ihm bis über den Kopf. So rannte er lange Zeit. Dann fiel ihm ein, dass der Schneider, wenn er ihn suchen sollte, sehen würde, wie sich die Gräser und Blätter bewegten, und er hielt inne, duckte sich ins dichteste Gestrüpp, bewegte sich nicht und hielt den Atem an.

Alles klappte sehr gut. Linkerhand war nach langem Schlaf aufgewacht, er sah, dass sein Gefangener entwichen war, fand seine Schuhe, dachte nicht daran, sie aufzuheben, verfolgte eine Zeitlang die Spuren der nackten Füße, und setzte dann grinsend seinen Weg fort, denn der Weg führte nach Dives, wo er die Nacht verbringen wollte. Dieser Dummkopf, so dachte er, hat gemeint, auf dem Heimweg zu sein, er hat nicht gemerkt, dass er in die andere Richtung geht; nach ein paar Schritten habe ich ihn eingeholt.

Und der Schneider schlug und trieb den Esel an, und fegte wieder mit seinen langen krummen Beinen, die sich gebärdeten wie zwei Sicheln und die so schnell liefen als hätte er Flügel, über den Boden. Aber dank der guten Idee des Kindes, die Gegenrichtung einzuschlagen, entfernte sich der Schneider, je mehr er vorankam, immer weiter von ihm.

II

Es war schon dunkel, als sich Clopinet einigermaßen sicher fühlte, um sein Versteck zu verlassen. Es war ein milder ruhiger, leicht dunstiger Frühlingsabend. Als er aufstehen wollte, hörte er ein merkwürdiges Geräusch, das ihn sehr erschreckte. Er meinte, es sei der fürchterliche Schritt des Schneiders, unter dem der Sand weiter unten knirschte. Und da es manchmal klang wie Stoff, der zerrissen wird, dachte er wieder an den Schneider, der Stoffe auseinander reißt, ehe er sie mit seinen schrecklichen Scheren zurechtschneidet. Aber das Geräusch kam immer wieder, wurde weder lauter noch leiser, weder schneller noch langsamer, es kam nicht näher und hörte nicht auf. Es war das Meer, das unten an den Strand brandete. Clopinet kannte dieses Geräusch nicht. Er versuchte, etwas zu sehen und vergewisserte sich, so gut er es in der Dunkelheit vermochte, dass außer ihm kein Mensch in dieser Ödnis war. Für ihn war diese Gegend unbegreiflich. Als er den Kopf aus dem Gebüsch streckte, sah er einen großen Halbkreis von Dünen, bei denen er die Einschnitte und Vorsprünge nicht unterscheiden konnte, es schien ihm eine unendlich große schartige Mauer zu sein, die ins Nichts abfiel. Und dieses Nichts war das Meer. Da er aber keine Ahnung davon hatte und der Abendnebel den Horizont verhüllte, unterschied er es nicht vom Himmel und wunderte sich nur, dass er oben die Sterne sah und merkwürdige Lichter unten. War das ein Wetterleuchten? Aber wieso unterhalb von ihm? Wie soll man das alles verstehen, wenn man nichts gesehen hat, noch nicht einmal einen großen Fluss oder einen kleinen Berg? Clopinet ging ein Stückchen im dichten Gras voran, wagte aber nicht, weiter hinunterzusteigen, er hatte Angst, und er hatte Hunger. Er sagte sich: «Ich muss mir eine Stelle zum Schlafen suchen, am frühen Morgen werde ich dann den Nachhauseweg suchen, heimgehen und schauen, ob meine arme Mutter gestorben ist.» Darüber musste er weinen, aber als er daran dachte, dass er selbst wie tot gewesen war auf dem Rücken des Schneiders, hoffte er, dass auch seine Mutter wieder zu sich kommen gekommen ist.

Er traute sich nicht, gleich an der erstbesten Stelle zu schlafen, aus Angst, dass der schreckliche Schneider ihn entdecken würde, denn er nahm an, dass der ihn immer noch suchte, und er war noch nicht weit genug von dem Weg entfernt, auf dem er ihm entgegen kommen könnte. Vorsichtig stieg er also hinab, er merkte, dass das schwieriger war, als er sich vorgestellt hatte. Der Rand der Düne war keine Mauer, an der entlang er hätte hinunter gleiten können. Das Terrain war überall rissig, überall ausgehöhlt und zerklüftet, wie eine Kastanie, brüchige Stellen gaben nach, wenn man sich mit der Hand an ihnen festhalten wollte; zudem stieß er auf breite Spalten, die sich unter Kraut und Dornen verbargen und fürchtete, hinein zu fallen. Manchen, auf deren Grund Wasser war, konnte er nicht ausweichen, zum Glück war es nicht tief. Aber die Nacht, die Einsamkeit und die Gefahr in diesem tückischen Gelände, das für einen Bewohner der Ebene neu und für einen Hinkenden schwierig war, erfüllten ihn mit großen Traurigkeit und mehr und mehr mit Entsetzen. Er wollte nicht weiter hinunter, sondern wieder hinauf. Das war noch schlimmer. Das Gelände unten war von der Sonne getrocknet und durch das dichte Gras etwas gefestigt, aber die Flanke dieses falschen Felsens war feucht und rutschig, der Fuß fand keinen Halt, große Mergelbrocken lösten sich und ließen große Kieselsteine hinunterrollen, die hier und dort gleichsam wie vom Himmel gefallen waren. Vor lauter Müdigkeit hielt sich das Kind für verloren, es konnten ja auch Wölfe kommen und es fressen.

Da sah er eine Stelle mit dichtem Moos und ließ sich völlig verzweifelt darauf fallen, versuchte einzuschlafen und sich so über den Hunger hinwegzuhelfen. Aber er träumte, dass er rutsche, und irgendetwas lief über ihn hinweg, vielleicht ein Fuchs oder ein Hase, und das machte ihm solche Angst, dass er auf und davon lief, er wusste nicht wohin, auf die Gefahr hin, in einen Spalt zu fallen und zu ertrinken. Er hatte seinen Verstand nicht mehr beieinander und erkannte das nicht mehr, was er tagsüber gesehen hatte. So geriet er von einer Mulde in die andere und stellte sich dabei vor, dass er, statt zu laufen, über der Erde fliege. Er sah die großen Gipfel der Dünen wieder, die ihn so erstaunt hatten und hielt sie für Riesen, die ihn kopfschüttelnd anschauten. Jeder dunkle Busch kam ihm vor wie ein hingekauertes Tier, bereit, sich auf ihn zu stürzen. Auch verrückte Einfälle kamen ihm in den Sinn und Erinnerungen an Dinge, die er vergessen hatte. Einmal hatte sein Onkel, der Matrose, in seiner Gegenwart gesagt: «Wenn man sich den Geistern des Meeres hingibt, dann wollen einen die Geister der Erde nicht mehr.» Dieser symbolische Satz erschien ihm nun wie eine Drohung. «Ich habe zu viel ans Meer gedacht», sagte er sich, «also lehnt mich die Erde ab und hasst mich; sie reißt auf und spaltet sich überall unter meinen Füßen, sie richtet sich zu Buckeln auf, die nirgends einen Halt haben und mich zermalmen wollen. Ich bin verloren, ich weiß nicht, wo das Meer ist, das für mich vielleicht besser wäre. Ich weiß nicht, in welcher Richtung meine Heimat liegt und ob ich je unser Haus wieder finde. Vielleicht hat sich die Erde über meine Eltern genauso geärgert und es gibt sie nicht mehr!»

Bei diesen Gedanken vernahm er über sich etwas sehr merkwürdiges. Und zwar eine Vielzahl von leisen klagenden Stimmchen, die um Hilfe zu rufen schienen. Das waren keine Vogelrufe, das waren Kinderstimmen, so sanft und so traurig, dass Clopinet nur noch trauriger und verzweifelter wurde, und er rief: «Hierher, hierher, Geisterchen, weint mit mir zusammen oder nehmt mich zum Weinen mit zu euch, denn ihr könnt wenigstens gemeinsam weinen, ich aber bin ganz allein.»

Die Stimmchen flogen immerzu über ihn hinweg, es waren so viele, dass es eine Viertelstunde lang dauerte, aber sie bekümmerten sich nicht um Clopinet, obwohl sich seine eigene Stimme allmählich mit dieser sanften Klage vereinte. Endlich wurden sie seltener, der große Schwarm entfernte sich; nur noch vereinzelte Stimmen kamen vorüber, Nachzügler, deren Stimme ängstlich klang und die baten, man möge doch auf sie warten. Als Clopinet, der immerzu weiter rannte, ohne ihnen folgen zu können, die wohl letzte Stimme gehört hatte, war er verzweifelt, denn diese unsichtbaren Leidensgenossen hatten seinen Kummer gemildert, und nun fand er sich wieder im Schrecken der Einsamkeit. Da rief er aus: «Geister der Nacht, Geister des Meeres vielleicht, habt Mitleid, nehmt mich mit!»

Gleichzeitig unternahm er im Rennen eine große Anstrengung, als wenn er seine Flügel öffnen wollte, und – war es sein Wunsch, der ihm welche hat wachsen lassen, war alles ein Fieber- und Hungertraum – er spürte, dass er von der Erde abhob und in die Richtung davonflog, in die die Zugvogelgeister geflogen waren. Als er so in die graue Luft erhoben war, glaubte er ganz deutlich die kleinen schwarzen Pfeile zu sehen, die vor ihm flogen. Aber bald sah er nur noch Nebel und vergeblich rief er ihnen, auf ihn zu warten. Die Stimmen kamen immer weiter voran, weinten alle gemeinsam, aber da sie schneller waren als er, verloren sie sich im Dunst. Nun spürte Clopinet, dass seine Flügel ermüdeten, dass sein Flug langsamer wurde, er senkte sich herab, immer weiter, ohne zu fallen, aber auch ohne anhalten zu können, bis an den Fuß der Düne. Kaum hatte er die Erde berührt, schüttelte er seine Arme und stellte sich vor, sie seien immer noch Flügel, die wieder los fliegen könnten, sobald er nicht mehr müde war. Aber er hatte gar keine Muße, sich darüber Gedanken zu machen, denn das, was er sah, nahm ihn so in Anspruch, dass er kaum mehr an sich selbst dachte.

Die Nacht war immer noch dunstig, aber nicht ganz dunkel; man konnte immer noch Gegenstände, die nicht zu weit entfernt waren, erkennen. Er hatte sich auf sehr feinem, weichem Sand niedergelassen zwischen großen runden weißlichen Kugeln, die er zunächst für blühende Apfelbäume gehalten hatte. Als er aber genauer hinschaute und die nächstliegenden berührte, erkannte er, dass es große Felsen waren, solche, wie er sie oben auf den Dünen gesehen hatte, und die, vielleicht schon vor sehr langer Zeit, auf den Strand hinunter gerutscht waren.

Es war ein schöner Strand, denn an dieser Stelle kam das Meer täglich bis zum Fuß der Düne und wischte den Schlamm hinweg, der von diesem Mergelgebirge herunterkam. Der Sand wurde außerdem noch an tausend Stellen von kleinen Süßwasserbächen gereinigt, die ihn auf ihrem Weg von oben herunter filterten und die sich lautlos und ohne Schaum ins Salzwasser ergossen. Clopinet hörte zwar das Brausen der nahenden Wogen, aber da die Flut noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte, sah er erst nur das lange blasse Band von feuchtem Sand, das von einer großen Anzahl schwarzer, größerer und kleinerer, mehr oder weniger abgerundeter massiger Klumpen durchsetzt war.

Clopinet hatte keine Angst mehr. Er schaute diese reglosen Klumpen erstaunt an. Es war wie eine Herde riesiger Tiere, die vor ihm schlief. Er wollte sie aus der Nähe sehen und ging solange auf dem Sand weiter, bis er einen berühren konnte. Es war ein Felsen so wie die, die er soeben verlassen hatte. Aber warum war er schwarz, die anderen am Ufer waren doch alle weiß? Er langte noch einmal hin und hatte etwas wie eine riesige schwarze Weintraube in der Hand. Er hatte Hunger, biss hinein, und spürte zunächst nur ziemlich harte Muscheln zwischen den Zähnen. Aber seine Zähne waren kräftig und bissen in köstliche kleine Muscheln. Sogleich machte er sie mit seinem Messer auf und stillte seinen Hunger, denn es gab Unmengen davon, und der dichte Belag dieser Muscheln machte die weißen Steine schwarz, die wie die anderen vom Gipfel oder den Flanken der Düne herunter gefallen waren.

Als er sich satt gegessen hatte, war er wieder ganz munter und nahm Vernunft an. Er erinnerte sich nicht mehr, dass er gerade noch Flügel gehabt hatte, sondern meinte, er sei langsam die Mergelhügel hinunter gerollt im Glauben, in den Wolken zu fliegen.

Nun kletterte er auf einen der größten schwarzen Felsen und schaute, was dahinter war. Er sah wieder die langen blassen Schimmer vorüberziehen, die er schon von oben gesehen hatte und die den Boden zu streifen schienen. Was konnte das sein? Er erinnerte sich, dass sein Onkel einmal gesagt hatte, das Meer glänze nachts oft wie weißes Feuer, und nun endlich sagte er sich, dass das, was er vor sich sah, das Meer sein musste. Es war ganz nahe und kam auf die Felsen zu, aber so langsam und so regelmäßig und mit so gleichmäßigem Rauschen, dass sich das Kind nicht klar machte, wieviel es noch von dem Land gewinnen würde und ganz ruhig auf seinem Felsen verblieb, zuschaute, wie es kam und ging, näher kam, zurück wich, große Wogen bildete, sich aufbäumte um gleich wieder einzusinken und von neuem anzufangen, bis es sich schließlich am Strand glatt niederlegte mit dem klaren hellen Plätschern, das in ruhigen Nächten durchaus einen Zauber ausübt und den Schlaf herbeiführt, kaum hat man sich hingelegt.

Clopinet konnte nicht widerstehen. Es war vielleicht zehn Uhr abends, noch nie war er so lange wach geblieben. Sein Fels- und Muschelbett war nicht gerade weich, aber wenn man sehr müde ist, wo schläft man dann nicht überall? Eine Weile schaute er noch mit schläfrigem Blick auf die dünne silbrige Wasserfläche, die sich weich über den Sand erstreckte, die noch einen Moment lang herankam, wenn die Woge bereits zurückfloss, die zurückgenommen und weiter nach vorn gestoßen wurde, wenn sie wieder kam. Nichts hat so wenig erschreckendes wie dieser sanfte und tückische Vormarsch der steigenden Flut.

Clopinet sah wohl, dass der Sandstreifen vor ihm schmal wurde, dass kleine Wellen bereits den Fuß seines Felsens umspülten. Sie waren so hübsch mit ihrem weißen Schaumkrönlein, dass er sich keinerlei Sorgen machte. Es war das Meer, endlich sah er es, berührte es. Es war nicht sehr groß, denn hinter fünf oder sechs Wellenkämmen sah er nur noch ein schwarzes im Dunst verschwimmendes Band. Es hatte nichts böses an sich, es wusste bestimmt, dass er schon immer mit ihm leben wollte. Zweifellos verfügte es über Vernunft, denn Onkel Matrose sprach oft von ihm wie von einer majestätischen, ehrwürdigen Person. Da fiel Clopinet ein, dass er es noch nicht begrüßt hatte und dass das nicht anständig war. Schlafmüde lüpfte er seine Wollkappe, dann fiel ihm der Kopf auf den linken Arm, und er schlief ein, immer noch mit der Kappe in der rechten Hand.

III

Nach zwei Stunden jedoch wurde er von einem seltsamen Geräusch geweckt. Das Meer brandete so heftig an den Felsen, dass er zu zittern schien, ja, Clopinet sah gar keinen Felsen mehr; er sah einen breiten Saum aus Schaum um sich. Die Flut war da, das Kind verstand nicht, was ihm da geschah. Er wollte sich zu der Stelle flüchten, von der er gekommen war, aber überall ringsum stand das Wasser gleich hoch, und alle die schwarzen Felsen waren verschwunden. Die Flut stieg bis zum Fuß der weißen Felsen und schien immer noch höher steigen zu wollen. Clopinet wollte seine Beine ins Wasser stecken, um zu sehen, ob es tief war. Er spürte keinen Grund, wohl aber spürte er, dass die Wogen ihn davontragen würden, wenn er den Felsen verließ. Da hielt er sich endgültig für verloren, dachte an seine Mutter und schloss die Augen, um nicht zu sehen, wie er starb.

Plötzlich hörte er über sich die Stimmchen, die ihn auf der Düne gerufen hatten, und er fasste wieder Mut. Schon einmal war er geflogen, um von oben nach unten zu kommen, da konnte er auch fliegen, um wieder dorthin zurück zu gelangen. Er machte den Ruf der unsichtbaren Geister nach und hörte sie über sich schweben, als ob sie über ihm kreisten, um ihn zu rufen und auf ihn zu warten. Wieder unternahm er eine große Anstrengung mit seinen Armen, die ihn trugen wie Flügel und erhob sich in die Lüfte. Aber er spürte, dass er nicht sehr hoch flog, dass er hin und zurück dicht über dem Meer schwebte, manchmal die Wogen berührte, manchmal sich auf dem Felsen ausruhte, dann wieder zu fliegen anfing, zu schwimmen und ein ungeheures Vergnügen dabei empfand.

Das Meerwasser kam ihm lau vor, ohne Anstrengung konnte er sich über Wasser halten, als wenn er sein Leben lang nichts anderes gemacht hätte, und dann bekam er Lust, hinein zu schauen. Er schloss die Flügel und tauchte mit dem Kopf hinein. Das Wasser war ganz aus weißem Feuer, das nicht brannte. Schließlich war er müde, er kehrte zu seinem Felsen zurück und schlief wieder ein; er schlief tief und fest, gewiegt vom schönen Plätschern der Wogen und den lieblichen Stimmen der Geister, die weiterhin ihre Kinderrufe in die Luft ausstießen.

Als er aufwachte, ging die Sonne in silbrigem Nebel auf, der sich in großen Streifen am Horizont auflöste. Ein frischer Wind kräuselte das grüne Meer, im Osten waren große Wogen rosa und lila. Der Horizont wurde schnell klar, und der Felsen, auf dem Clopinet geschlafen hatte, war so hoch, dass er sehen konnte, wie groß das Meer war. Es war nicht so still wie am Abend, aber es war viel weiter, und er wollte es am hellen Tag aus der Nähe sehen. Er rannte über den Sand, es machte ihm nichts aus, dass seine Beine in den großen Pfützen, die es stehen gelassen hatte, nass wurden, er ließ es erst dabei bewenden, als ihm das Wasser bis über die Knie ging. Haufenweise sammelte er unterschiedliche Muscheln auf, die alle gut und hübsch waren; dann kehrte er zum Fuß der Düne zurück, um aus den kleinen Quellen zu trinken, die leicht brackig schmeckten, aber nicht so bitter wie das Meerwasser, das er versucht hatte. Er war so zufrieden, diese große Sache, von der er so geträumt hatte, nun zu sehen, dass er nicht mehr ans Heimkehren dachte. Fast alles, was er am Tag zuvor erlebt hatte, war vergessen. Er ging am Ufer auf und ab, schaute sich alles an, fasste alles an und versuchte sich über alles klar zu werden. In der Ferne sah er Boote vorüberziehen, er verstand, was es war, da er Menschen erkennen konnte, die auf ihnen waren und die Segel, die sich im Wind blähten. Sogar ein Seeschiff sah er am Horizont und hielt es für eine Kirche. Aber es bewegte sich fort wie die Boote, und sein Herz schlug heftig. Das war also ein richtiges Schiff, eines dieser schwimmenden Häuser, auf denen sein Onkel gereist war! Clopinet wäre gern auf diesem Bauwerk gewesen und hätte gesehen, wo das Meer aufhörte, dort hinter der grauen Linie, die es vom Himmel trennte.

An den Schneider dachte er nicht mehr, aber die Angst kam wieder, als er in der Ferne eine Gestalt sah, die sich am Ufer auf ihn zu bewegte. Bald jedoch beruhigte er sich wieder, er sah, dass das ein Mensch wie jeder andere war, und dann schien er in ihm sogar seinen älteren Bruder Franz zu erkennen, der, welcher am Abend zuvor die Faust gegen den Schneider ausgestreckt hatte, denn Franz hasste den Schneider und liebte sein kleines Hinkebein.

Er war es wirklich, Clopinet rannte zu ihm hin und warf sich in seine Arme. «Woher kommst du denn, wo warst du?», rief Franz und küsste ihn. «Es ist erst sieben Uhr früh, du kommst nicht aus Dives. Wo warst du in der Nacht?»

«Hier, auf diesem großen schwarzen Felsen», sagte Clopinet.

«Wie bitte? Auf der Dicken Kuh?»

«Das ist keine Kuh, lieber Franz, im Ernst, das ist ein Felsen.»

«Soso, das weiß ich wohl! Weißt du nicht, dass man diese Felsen hier die Schwarzen Kühe nennt? Aber wo warst du denn während der Flut?»

«Ich weiß nicht, was du meinst?»

«Das Meer, das bis hierher steigt, bis zu den Steinen, die man die Weißen Kühe nennt.»

«Ach so! Ja, das habe ich gesehen, aber die Meergeister haben verhindert, dass ich ertrinke.»

«Man soll nicht verrücktes Zeug sagen, Clopinet! Es gibt keine Geister auf dem Meer. Auf der Erde, da weiß ich nicht…»

Clopinet antwortete lebhaft: «Ob sie nun auf der Erde sind oder auf dem Meer, ich sage dir, dass sie mich gerettet haben.»

«Hast du sie gesehen?»

«Nein, ich habe sie gehört. Aber lassen wirs, da bin ich, und ich habe sogar gut geschlafen mitten im Wasser.»

«Da kannst du sagen, dass du ein Riesenglück gehabt hast. Ich weiß zwar, dass diese Große Kuh da, die höchste, als einzige nicht völlig von der Flut bedeckt wird, wenn das Meer ruhig ist. Aber wenn nur der geringste Wind aufgekommen wäre, dann wäre sie höher gestiegen, und dann wärs mit dir vorbei gewesen, mein armer Kleiner.»

«Ach was! Ich kann gut schwimmen, tauchen, über die Wellen fliegen, das ist sehr lustig.»

«Na na, rede kein dummes Zeug. Deine Kleider sind nicht nass. Du hast Angst gehabt, warst hungrig und hast gefroren. Trotzdem siehst du nicht krank aus. Iss das Brot, das ich dir mitgebracht habe, trink einen guten Schluck Apfelwein hier aus meiner Feldflasche, und dann erzählst du mir vernünftig, wie du diesen Hund von Schneider los geworden bist, denn ich sehe ja, dass du seinen Klauen entkommen bist.»

Clopinet erzählte alles, was geschehen war.

«Gut», antwortete Franz, «ich bin so froh, dass er nicht dazu kam, dich zu quälen, denn er ist ein böser Mensch, ich weiß, dass er manche seiner Lehrlinge zu Tode gebracht hat, weil er sie so schlecht behandelt und ihnen nichts zu essen gegeben hat. Unser Vater will nicht glauben, was ich ihm sage, er hat auch unsere Mutter davon überzeugt, dass ich diesem Mann übelgesinnt bin und nicht die Wahrheit sage. Du weißt, wie sehr sie unseren Vater fürchtet und immer das will, was er will. Sie hat gestern sehr geweint und nichts gegessen; aber heute morgen hat sie ihm zugehört, und beide meinen, dass dein Kummer schon vorbei ist, so wie ihrer, dass du dich schon an deinen Meister gewöhnt hast. Es gibt kein Mittel, sie vom Gegenteil zu überzeugen; wenn du heimkämst, kannst du sicher sein, dass der Vater dich zurechtweisen und noch heutigentags selbst nach Dives bringen würde, wo sich der Schneider, der nirgends lange bleibt, wie er sagte, zwei Tage aufhalten will. Die Mutter könnte nichts für dich tun, sie würde nur weinen. Wenn du auf mich hörst, so geh zu deinem Onkel Laquille, er wohnt in Trouville. Du sagst ihm, er soll dir helfen, Schiffsjunge bei der Marine zu werden, das wäre schön für dich, denn das hast du dir doch immer vorgestellt.»

«Aber man wird mich nicht als Matrosen wollen», antwortete Clopinet ganz verzagt. «Das hat Papa gesagt. Einer, der hinkt, ist kein echter Mann, aus dem kann nur ein Schneider werden.»

«So sehr hinkst du nun auch wieder nicht, schließlich bist du die ganze Nacht ohne Schuhe in dieser schrecklichen Gegend hier, die man sogar Wüste nennt, herumgelaufen. Bist du krank geworden?»

«Ach wo», sagte Hinkebein, «mein rechtes Bein ist nur etwas müder als das linke.»

«Das ist nicht der Rede wert. Also, was willst du tun? Wenn der Vater hier wäre, würde er mir befehlen, dich, ob du willst oder nicht, zum Schneider zurück zu bringen, was ich wirklich nicht gern täte, denn ich weiß, was dich da erwartet. Aber er ist nicht da, und wenn du willst, begleite ich dich nach Trouville. Das ist nicht weit von hier, und ich bin heute Abend wieder daheim.»

«Auf nach Trouville!», rief Clopinet. «Ach mein lieber Franz, du rettest mir das Leben! Da die Mutter nicht krank vor Kummer ist und der Vater überhaupt keinen Kummer hat, ist mein einziger Wunsch, zur See zu fahren, die mag mich und war nicht böse zu mir.»

Drei Stunden später waren sie in Trouville. Das war damals ein armes Fischerdorf, wo der Onkel Laquille direkt auf dem Strand ein Häuschen, ein Boot, eine Frau und sieben Kinder hatte. Er empfing Clopinet sehr freundlich, bestätigte ihn darin, sich nicht zu diesem unwürdigen Schneiderberuf herabzulassen und hörte sich voll Bewunderung die Erzählung von der Nacht auf der Dicken Kuh an; er schwor bei allem, was ihm auf der Erde und dem Meer heilig war, dass er zu den schönsten Abenteuern berufen sei. Und versprach, sich vom nächsten Tag an um seine Aufnahme bei der Handelsmarine oder der Staatsmarine zu kümmern.

«Du kannst nun wieder zu deinen Eltern gehen», sagte er zu Franz, «aber da ich weiß, was für ein Dickschädel Vater Liebig ist, lässt du ihn am besten im Glauben, dass der Kleine bei seinem Meister ist. Ich kenne ihn, diese Krabbe von einem Schneider, der ist ein Bösewicht, geizig, grausam den Schwachen, feige den Starken gegenüber. Ich gebe zu, dass es mich demütigen würde, wenn mein Neffe eine so üble Lehrstelle hätte. Geh nun, Franz, und sei beruhigt. Ich kümmere mich um alles. Wir haben da einen Burschen vor uns, der seiner Familie Ehre machen wird. Lass sie im Glauben, dass er in Dives ist. Vielleicht vergehen zwei oder drei Monate, ehe Linkerhand wieder zu euch kommt. Wenn dein Vater dann erfährt, dass der Kleine ausgerissen ist, ist immer noch Zeit, ihm zu sagen, dass er zur See fährt und dass er da nur von edlen Händen Schläge bekommt – von Männerhänden, von Matrosenhänden! Die größte Schande ist, von einem buckligen Bösewicht verprügelt zu werden.»

Franz fand das alles sehr richtig, Clopinet auch. Sie konnten sich nicht vorstellen, unschuldig bestraft zu werden. Nur der Schneider wäre zu einer solch unverdienten Grausamkeit fähig gewesen. Franz kehrte also um und tat wie ausgemacht. Beim Weggehen händigte er seinem kleinen Bruder das Bündel mit den Kleidern aus, die Mutter Lieb geflickt hatte, mit neuen Schuhen und ein bisschen Geld. Dem fügte er aus eigener Tasche noch zwei schöne Silbertaler bei und ein Säcklein mit kleinen Münzen, damit Clopinet sein Geld nur bei großen Ausgaben wechseln musste. Er küsste ihn auf beide Wangen und empfahl ihm, brav zu sein.

Onkel Laquille war ein vortrefflicher Mann, ein wenig überspannt, vielleicht sogar ein bisschen verrückt, sanft wie jemand, der viel gelitten und viel geduldig ertragen hat. Er war gereist und wusste allerhand Dinge, aber in seiner Erinnerung wurden sie schöner, größer, hässlicher oder seltsamer, und vor allem, wenn er viel Apfelwein getrunken hatte, war es ihm unmöglich, die Dinge so zu schildern, wie sie waren. Clopinet hörte ihm begierig zu und stellte tausend Fragen. Zum Abendessen kehrte Frau Laquille heim, Clopinet wurde ihr vorgestellt. Sie war eine große hagere Frau, trug einen alten schmutzigen Rock und eine Baumwollkappe, wie sie dort auf dem Land üblich war. Am Kinn war sie bärtiger als ihr Mann, und sie schien es nicht gewohnt zu sein, ihm zu gehorchen. Sie empfing Clopinet nicht sehr freundlich, und Laquille musste ihr gleich sagen, dass sein Aufenthalt bei ihnen nicht von Dauer war. Sie gab ihm zu essen, bemerkte dabei aber verdrießlich und schlecht gelaunt, dass er einen Appetit habe wie ein Scheunendrescher.

Am nächsten Tag tat Laquitte wie versprochen. Er führte Clopinet zu mehreren Fischern, die ihn aber wegen seines Hinkens zurückwiesen. Genauso war es, als er ihn den Männern vorstellte, die mit der Rekrutierung für die königliche Marine befasst waren. Ganz gedemütigt kehrte der arme Hinkebein in die Wohnung seines Onkels zurück, und dieser musste seiner Frau gestehen, dass sie noch keinen Erfolg gehabt haben, da das Kind ein schwaches Bein habe, und, da es nicht in Meeresnähe aufgewachsen war, auch nicht so kühn und gewandt zu sein schien, wie es sich für einen Matrosen geziemt hätte.

«Das habe ich mir gleich gedacht», antwortete Frau Laquille, «der taugt zu nichts, nicht einmal zu einem Bauerntölpel. Du hast einen großen Fehler gemacht, dich mit ihm zu belasten; wenn ich nicht da bin, machst du nur Dummheiten. Entweder kommt er zum Schneider oder zu seinen Eltern. Ich hab eh schon genug Kinder und kümmere mich nicht um noch einen Nichtsnutz im Hause.»

«Geduld, meine Frau!», antwortete Laquille. «Vielleicht kann ihn jemand beim Kabeljaufang gebrauchen.»

Frau Laquille zuckte mit den Schultern. Im Dorf wimmelte es schon von Kindern, die zum Fischfang abgerichtet waren, und niemand wollte einen, der sich nicht auskannte und den auch sonst niemand wollte. Laquille versteifte sich darauf, es am nächsten Tag noch einmal zu versuchen, aber es klappte nicht. Alle hatten mehr Kinder als Arbeit für sie. Madame Laquille rief aus, dass sie für ihren Teil schon genug habe und nicht daran denke, noch eines zu ernähren. Laquille bat sie, noch ein paar Tage Geduld zu haben und nahm Clopinet mit auf den Fischfang. Das war eine große Freude für das Kind; er vergaß all seinen Kummer, als er endlich einmal auf diesem großen Wasser, das er so liebte, geschaukelt wurde. «Er ist trotz allem ein kräftiger Bursche», sagte Laquille beim Heimkommen, «vor nichts hat er Angst, wird nicht seekrank, und er hat sogar den Seemannsgang. Ich würde etwas aus ihm machen, wenn ich ihn behalten könnte.»

Frau Laquille antwortete nicht. Aber als es Nacht geworden war und alle Kinder im Bett lagen, hörte Clopinet, der wegen der Ungewissheit nicht schlafen konnte, wie die Frau mit der Baumwollmütze zu ihrem Mann sagte: «Jetzt ists genug! Morgen früh kommt der Schneider auf dem Weg nach Honfleur vorbei, wo er Sachen abholen muss. Ich erwarte, dass du ihm seinen Lehrling aushändigst. Der wird ihn dann schon zur Vernunft bringen. Nichts ist besser, um ein Kind zum Gehorsam zu bringen, als wenn man es bis aufs Blut auspeitscht.»

Laquille senkte den Kopf, seufzte und antwortete nicht. Clopinet war klar, dass sein Schicksal besiegelt war, und dass sein Onkel ihn genauso wenig wie seine Mutter vor dem Schneider bewahren würde. Er war fest entschlossen zu fliehen, wartete, bis alle schliefen und stand dann leise auf. Er zog sich an, nahm sein Bündel, das als Kopfkissen gedient hatte, vergewisserte sich, dass sein Geld in der Tasche steckte und ordnete sein Bett. Das war ein komisches Bett, kann ich euch sagen. Da alle Kinder von Laquille zusammen mit Vater und Mutter schon dicht nebeneinander auf den zwei einzigen Betten im Haus schliefen, hatte man für Clopinet eine Algenkiste in einen kleinen Hängeboden unter einer Dachluke gestellt, zu dem man auf einer Leiter hinaufsteigen musste. Er streckte also in der Dunkelheit ein Bein aus, um die Leiter zu ereichen. Aber er spürte nichts; da fiel ihm ein, dass Frau Laquille sie weggenommen hatte, um auf den Speicher gegenüber am anderen Ende des Zimmers zu gelangen. Clopinet hob den Vorhangfetzen hoch, die Nacht war klar. So fand er bestätigt, dass die Leiter außer Reichweite war und man unmöglich von dieser Höhe ins Zimmer springen konnte, ohne sich den Hals zu brechen.

Merkwürdigerweise dachte er nicht an seine Flügel. Sein Bruder hatte sich darüber lustig gemacht, deshalb hatte er mit niemandem mehr darüber zu sprechen gewagt, und sich selbst sagte er, dass er sie vielleicht geträumt hatte. Es galt jedoch zu verschwinden, ehe es Tag wurde. Er öffnete die Dachluke und überprüfte, ob er hindurch passte. Als er aber den Kopf hinausstreckte, sah er, dass es zum Hinunterspringen viel zu hoch war. Das Meer war noch weit entfernt. Am Abend zuvor hatte er bemerkt, dass die Flut an die Hauspfosten schlug. Aber wann kam sie? Man hatte ihm gesagt: einmal alle dreiundzwanzig Stunden. Clopinet konnte nicht so weit zählen.

Er sagte zu sich: «Wenn das Meer mich abholen käme, dann spränge ich freilich hinein. Ich hab keine Angst vor ihm, es ist mir wohlgesinnt.»

So verging viel Zeit über seinen Gedanken, sein Bündel hielt er in der Hand, mal schlief er wider Willen ein bisschen ein und träumte, er sei auf dem Boot seines Onkels, da schlug plötzlich ein Windstoß die Dachluke auf, die er schlecht geschlossen hatte. Jetzt war er völlig wach und hörte die Kinderstimmchen der Geister der Nacht vorbeiziehen. Dieses mal verstand er ihr Lied. «Komm, komm», sagten sie, «ans Meer, ans Meer! Schlaf nicht wieder ein, öffne deine Flügel und komm mit uns. Ans Meer, ans Meer!»

Clopinet spürte, wie sein Herz schlug und seine Flügel sich öffneten. Er sprang von der Dachluke aus auf einen alten Mastbaum, der ans Haus gelehnt war und den Tauben als Stange diente. Dann ließ er sich hinab gleiten, vielmehr er flog in seiner Vorstellung davon und fand sich auf dem Meer im Boot seines Onkels wieder.

Es war mit Kette und Schloss fest verankert. Unmöglich, es zu benutzen. Aber das Wasser leckte erst am Ufer, es war nicht tief, und Clopinet – vielleicht schwamm er nach Vogelart, vielleicht trug ihn der Wind davon – erreichte ohne nass zu werden eine große trockene Sand- und Schilffläche, auf der schnelles Vorwärtskommen sehr mühsam war. Außerdem war ja Schlafenszeit, und Clopinet war schon über seine Kräfte wach geblieben. Er legte sich in den feinen warmen Sand und wachte erst bei Sonnenaufgang wieder auf, ausgeruht und sehr froh, in Freiheit zu sein. Aber bald wurde seine Freude von einer bösen Entdeckung getrübt: er hatte geglaubt, Richtung Honfleur zu fliegen und zu gehen, wo er den Leuchtturm gesehen hatte, aber er hatte sich getäuscht. Er erkannte die Gegend wieder, hier war er vorgestern mit seinem Bruder Franz vorbei gekommen. Hierher war er von Villers und den Schwarzen Kühen aus gekommen. Er ging dahin zurück! Und von hier musste der Schneider aus Dives zurückkommen, er lief Gefahr, ihm zu begegnen. Nach Trouville zurückzukehren war auch nicht besser. Dort würde man ihn sehen und bestimmt seine Fährte dem Feind verraten.

Er fasste den Entschluss, bei den Dünen dicht am Strand weiterzugehen, weit weg vom Weg weiter oben, der durch die Sandflächen führte. Sein Onkel hatte ihm erzählt, dass der Schneider Abscheu vor dem Meer habe. Er habe eine Heidenangst vor ihm, sagte, er habe noch nie in ein Boot steigen können, ohne zum Sterben seekrank zu werden. Allein beim Anblick der Wogen drehe sich ihm der Magen um, und wenn ihn sein Weg an der Küste entlang führe, hütete er sich, auf dem Strand zu gehen, er ging immer so weit oben und so weit davon entfernt wie möglich.

So kam Clopinet nach Villers, wo er, nachdem er sich gut umgeschaut hatte, schnell ein großes Brot kaufte und dann gleich wieder seinen Weg an den Dünen entlang bis zu den Schwarzen Kühen verfolgte; da war er wieder allein, in seiner Wüste, und empfand so große Freude, als wäre er daheim in seinem Haus und Garten.

Zu seinen Eltern zurück wollte er jedoch nicht. Was ihm sein Bruder erzählt hatte, raubte ihm jede Hoffnung, seinen Vater zu Mitleid zu bewegen und bei Mutter Lieb Schutz zu finden. Er aß und betrachtete dabei die Küste. In den wenigen Tagen mit seinem Onkel hatte er allerhand über das Land gelernt. Es war ein klarer Tag, er sah, wie weit draußen die Mündung der Seine war, und dass man, um nach Honfleur zu gelangen, flaches freies Gelände durchqueren musste. Es gab rundum nur die Dünen, in denen er war, nur in ihnen konnte er sich verstecken, Schutz finden und allein leben. Das arme Kind hatte Angst vor allen Leuten, Frau Laquille hatte ihn nicht mit dem Menschengeschlecht versöhnen können. Und er war ja gut an Einsamkeit gewöhnt, bis jetzt hatte er immer nur Kühe in einer Gegend gehütet, wo nie jemand vorbei kam. Und schließlich – seit er Umgang mit Geistern hatte, fürchtete er sich überhaupt nicht mehr vor einem Leben in der Wildnis.

Nachdem er sich das alles überlegt hatte, entschied er sich, die Rückseite der Düne zu erkunden und sich hier für immer einzurichten. – Für immer! Ihr werdet sagen, dass das ja nicht möglich ist, dass der Winter kommt, dass seine zwei oder drei Taler schnell ausgegeben sind. Aber auch, wenn er genügend Geld gehabt hätte, wie kommt man zu Essen und Kleidung in einer Wüstenei, wo nur Gras wächst, das selbst die Herden verschmähen? Freilich gibt es das Meer mit seinen unerschöpflichen Muscheln, aber man wird ihrer überdrüssig, noch dazu, wenn man nur Wasser zu trinken hat, das auch nicht sehr gut schmeckt. – Darauf muss ich euch antworten, dass Clopinet nicht war wie die anderen Kinder, die mit zwölf Jahren lesen und schreiben können. Er konnte überhaupt nichts, er blickte nicht voraus, hatte noch nie nachgedacht, vielleicht war er gar nicht ans Denken gewöhnt. Bis jetzt hatte immer seine Mutter für ihn gedacht, und irgendwie war sie in seiner Vorstellung immer noch da, ein paar Schritt weiter weg, bereit, ihm seine Suppe zu geben und ihn ins Bett zu bringen. Nur ganz selten erinnerte er sich daran, dass er allein war für immer; aber da er sich dieses Wort immer wieder vorsagte, merkte er, dass er gar nichts davon verstand und dass Zukunft für ihn nur das eine bedeutete: dem Schneider entkommen.

Er drang in die Spalten der Düne ein. Bei den Schwarzen Kühen war sie über hundert Meter hoch und senkrecht abgeschnitten, sehr schön, sehr dunkel, mit rot, grau oder olivgrün gesprenkelten Wänden, die ihr den Anschein eines festen Felsens gaben. Hier wollte er sich gern einnisten, aber es schien unmöglich, dorthin zu gelangen. Aber wer weiß, vielleicht gab es ja einen Durchgang? Sein Bruder hatte so eindringlich gesagt, dass man nicht auf den Schwarzen Kühen schlafen darf, und er hatte ihm versprochen, sich nicht mehr dieser Gefahr auszusetzen. Nun am Tag wurde er wieder ein bisschen ängstlich und glaubte nicht mehr recht an das, was er in der Nacht erlebt hatte. Er kletterte also auf die Düne da, wo es möglich war und fand, dass es nicht so schlimm und schrecklich war, wie er gedacht hatte. Bald kannte er alle festen Stellen dort und wusste, wie man gefahrlos über abgerutschte Stellen gelangen konnte, indem man nämlich da ging, wo Pflanzen wuchsen. Er kannte auch die trügerischen Stellen. Schließlich drang er in die große Düne ein und sah, dass sie an manchen Spalten ganz mit Gras bewachsen war und dass man da ohne zu rutschen oder weit einzusinken gehen konnte.

Nachdem er lange, unendlich lange auf gut Glück herumgeirrt war in diesen mehr oder weniger festen Rutschgebieten, kam er zu einer felsigen Stelle und sah eine Vertiefung in Form einer Höhle, die teilweise ausgemauert war. Er ging hinein und fand, dass sie wie ein kleines Haus war, das man hier wohl zu einer Wohnstätte ausgehöhlt hatte. Es gab eine Steinbank und eine geschwärzte Stelle, als ob hier Feuer gemacht worden wäre. Aber schon sehr lange Zeit wohnte hier niemand mehr, denn das schöne zarte Gras vor dem Eingang zeigte keinerlei Spuren von Schritten; über dem Eingangsloch hing sogar dichtes Gestrüpp, kein Mensch gab sich mehr die Mühe, es abzuschneiden.

Clopinet nahm diese Einsiedelei in Besitz, die seit so manchem Jahr wegen der Erdrutsche rundum verlassen war. Er setzte sein Bündel ab und schnitt welkes Kraut, um sich ein Bett auf der Steinbank zu richten. «Der Schneider und Tante Laquille finden mich jetzt nie mehr», sagte er sich. «Es geht mir sehr gut, wenn ich nur noch eine unserer Kühe zur Gesellschaft hätte, dann wäre mir nicht langweilig.»

Er hatte Sehnsucht nach seinen Kühen, obwohl er sie nie sonderlich gemocht hatte, und Traurigkeit überkam ihn. Da fasste er den Entschluss zu schlafen, Brot hatte er noch genügend für zwei Tage, und er hatte sich vorgenommen, so lange nicht mehr aufzutauchen, wie der Schneider noch in der Gegend sein konnte. Er schlief lange; als es Abend wurde, war er vollkommen ausgeruht. Ermutigt von der Dunkelheit ging er schnell zu der Stelle, die er seinen Garten nennen wollte, denn hier blühten viele Blumen. Es war jedoch ein höchst seltsamer Garten, angelegt wie ein grüner Graben zwischen geraden Abhängen, die nur ein kleines Stück Himmel sehen ließen. Man war hier in einem Loch, aber in diesem Loch, weit oben auf der Düne, gab es keinen Weg, weder nach oben noch nach unten, und Clopinet, der nicht mehr genau wusste, wie er hingelangt war, fragte sich, wie er wohl wieder daraus hervorkäme.

Da er jedoch ausgeruht und besonnen war und weder unter Hunger noch Müdigkeit litt, versuchte er das erste Mal in seinem Leben nachzudenken und vorauszuschauen. Dazu gibt es nichts besseres als wenn man dazu gezwungen wird. Er sagte sich, nachdem hier schon einmal jemand gewohnt hat, müsse es auch jetzt noch möglich sein, sich zurechtzufinden. Er sagte sich auch, dass er nahe am Meer sein müsse, denn er hatte sich mitten drin in den Dünen aufgehalten, weit weg von dem kleinen Weg, der etwa in der Mitte verlief, der Weg, auf dem er dem Schneider weggelaufen war. Aber warum sah er das Meer nicht? – Die Schlucht, in der er sich befand, machte rechts von ihm eine kleine Biegung, und links bildete sie eine Art natürlichen Weg. Er ging auf ihm weiter und kam bald zu einer Art Mäuerchen, ganz offensichtlich von Menschenhand erbaut, ein Loch war in sie gebrochen, durch das er schaute. Da sah er das Meer hundert Fuß unter sich und den Mond, der in dichten schwarzen Wolken aufging. Er freute sich, dass er nun das Meer, wann er wollte, sehen konnte, das er so liebte, dessen Stimme er hörte, die lauter wurde und versprach, ihn sanfter zu wiegen als bei der Großen Kuh. Er untersuchte genau die äußere Wand des Steilufers, denn hier war die Düne fest genug, um ein echter Steilfelsen zu sein, ganz gerade und vollkommen unerreichbar. Derjenige, der vor ihm hier gewohnt hatte, musste wohl auch gute Gründe gehabt haben, sich zu verstecken, denn er hatte sich ein Guckloch gemacht an einem so steilen und wilden Ort.

Clopinet wollte nun das andere Ende dieser kurvigen Schlucht sehen, in der er wie einsperrt war, er machte kehrt und ging dorthin. Aber bald wurde er von einem tiefen Spalt und einer ganz geraden natürlichen Mauer aufgehalten. Nun suchte er im nicht sehr hellen Mondlicht die Stelle wieder zu erkennen, an der er in dieses Versteck gekommen war. Dabei tastete er sich in mehrere von Erdrutschen verschüttete Spalten, und das war so gefährlich, dass er sich nicht weiter wagte und sich vornahm, bei Tag weiter zu machen. Der Mond versteckte sich mehr und mehr, aber das kleine Stück Himmel, das er über sich sah, war noch hell. Das nützte er, um zu seiner Höhle zurückzukommen, sein wilder Garten war uneben und nicht leicht zu durchqueren. Er war nicht müde, die Zeit wurde ihm lang, da er nichts um sich sah, und er wurde traurig. Er hoffte, dass die kleinen Geister wieder kämen und ihm Gesellschaft leisteten. Aber er hörte nur den Donner eines aufziehenden Gewitters grollen, der das Meeresrauschen übertönte. Da schlief er ein, aber es war ein leichter Schlaf, aus dem er immer wieder aufwachte.

Normalerweise schlief er so gut, dass er noch nie geträumt hatte, und wenn doch, erinnerte er sich beim Aufwachen nicht mehr daran. In dieser Nacht träumte er viel. Wieder sah er sich verirrt in den Dünen, aus denen er nicht herausfand, dann fand er sich plötzlich daheim in sein Haus versetzt und hörte, wie sein Vater Geld zählte und unaufhörlich die gleiche Zahl wiederholte: disswitt, disswitt, disswitt[2][achtzehn, achtzehn]. Das waren die achtzehn Taler, die er dem Schneider für das erste Lehrjahr zu zahlen versprochen hatte, der Schneider hatte aber zwanzig verlangt. Vater Liebig war hartnäckig, er hatte «disswitt» so lange wiederholt, bis der Schneider einwilligte. Dann glaubte Clopinet die schreckliche Hand des Schneiders zu spüren, die nach ihm griff. Er schrie laut auf und erwachte. Wo war er? Es war dunkel wie in einem Ofen in seiner Höhle. Er erinnerte sich und war beruhigt. Aber im gleichen Moment wurde er ganz irre, denn er hörte deutlich – und jetzt war er ganz wach – eine Stimme, die zwei Schritt von ihm entfernt immer wieder sagte: disswitt, disswitt, disswitt.

Der kalte Schweiß brach ihm aus. Das war nicht die laute klare Stimme seines Vaters, es war eine gebrochene dünne Stimme, genau so wie die des Schneiders, als er: diswitt, disswitt, disswitt meinetwegen disswitt! gesagt hatte. – War er denn da? Hatte er also das Versteck seines Lehrlings entdeckt, würde er ihn mitnehmen? Bestürzt sprang Clopinet von seinem Felsenbett. Etwas wirbelte geräuschvoll um ihn herum, verschwand aus der Höhle und wiederholte ständig mit spitzer Stimme, die sich allmählich in der Ferne verlor: disswitt…disswitt!…

Der Schneider war also hierher gekommen, vielleicht wollte er Zuflucht vor dem Gewitter suchen? Er hatte den schlafenden Clopinet nicht gesehen, aber als er aufwachte, fürchtete er sich offenbar vor ihm, denn er war geflohen! Die Vorstellung, dass der Schneider ein Hasenfuß war, vielleicht ein noch größerer als er selbst, machte Clopinet erstaunlich mutig. Er legte sich mit seinem Stock neben sich wieder hin, entschlossen, fest zuzuschlagen, wenn der Feind wiederkäme.

Als er eine Weile dahingedämmert hatte, wurde er wieder wach. Das Gewitter hatte sich verzogen, der Mond glänzte auf dem Gras am Höhleneingang. Es hatte geregnet, die Blätter vor dem Eingang funkelten wie grüne Diamanten. Da hörte er höchst erstaunt in der Stille der Nacht einen Stier brüllen, Schafe blöken und ganz in der Nähe Hundegebell. Er hörte genau hin, es kam immer wieder, und als er die Augen schloss, hätte er schwören können, daheim zu sein und seine Tiere zu hören. Er war jedoch in Wirklichkeit in seiner Höhle in der Wüstenei. Wie konnte eine Behausung und Herden so nahe bei ihm sein?

Zuerst waren ihm diese Geräusche angenehm, sie milderten die Ängste der Einsamkeit. Aber immer noch war dieses disswitt zu hören, zu allem Überfluss auch noch von mehreren anderen Stimmen wiederholt, die aus verschiedenen Richtungen kamen. Es schien eine Bande von auf den Höhen der Düne verteilten Schneidern zu sein, die ihn bedrohte, indem sie ihn verspottete. Clopinet konnte nicht wieder einschlafen. Reglos wartete er auf den Tag; dann hörte er nichts mehr. Er ging zur Höhle hinaus, schaute überall herum und sah niemanden. Nur viele Meeres- und Ufervögel hatten oben auf den Dünen geschlafen und flogen nun über ihm. Er sah Kiebitze mit smaragdgrünem Gefieder, die mit anmutigen Kapriolen durch die Luft flogen, er sah mehrere Arten von Schnepfen und eine große Rohrdommel, die melancholisch mit eingezogenem Hals und ausgestreckten Füßen vorbeistelzte. Er kannte diese Vögel nicht bei ihren Namen, er hatte sie noch nie aus der Nähe gesehen, denn in seiner Heimatgegend gab es weder Teich noch Fluss, und die Zugvögel ließen sich dort nicht nieder. Er erfreute sich an ihrem Anblick, aber das alles erklärte ihm nicht die Geräusche, die ihn so erstaunt hatten, und er entschied sich, auszukundschaften, ob es einen bewohnten Ort in seiner Nachbarschaft gab.

Nun ging es darum, aus dem Loch herauskommen. Am hellen Tage war das ganz einfach, wenn auch der Durchgang eng und voller Dorngestrüpp war. Er konnte ihn gut erkennen, und da er nun sicher war, sich nicht mehr, auch nicht in der Nacht, zu verlaufen, stieg er auf eine höher gelegene Stelle hinauf, von der aus er das ganze angrenzende Land überblicken konnte. Soweit sein Blick auch reichte sah er nichts als Wüstenei und nicht die geringste Spur von bebautem Land und einer menschlichen Behausung.

Da dachte er sich, dass ihn die Teufel der Nacht erschrecken wollten. Sein Bruder Franz hatte gesagt: «Es gibt keine Geister über dem Meer, was die Erde betrifft, da weiß ich nicht…», und seine Eltern glaubten an alle möglichen Kobolde, gute und böse, die dem Vieh Krankheiten oder Gesundheit bringen. Clopinet wollte nicht mehr davon wissen als sie. Vor seiner im Freien verbrachten Nacht hatte er nie mit irgendwelchen Geistern zu tun gehabt, aber seit diesem Erlebnis glaubte er an die Geister des Meeres; da konnte er auch gut an Geister der Erde glauben, aber das machte ihm Sorgen, denn er hatte Grund zu glauben, dass sie ihm übel gesinnt waren. Vielleicht wollten sie ihn am Verbleib an diesem Steilufer hindern, vielleicht war der Schneider ein Zauberer mit der Macht, nachts als Geist zu kommen und ihn zu quälen? Das alles ging ihm wirr im Kopf herum. Aber wenigstens war das Gespenst, das disswitt sagte, vor ihm geflohen, und die anderen hatten nicht gewagt sich zu zeigen. Sie hatten sich damit zufrieden gegeben, Tierlaute nachzuahmen, vielleicht um ihn aus seinem Schlupfloch zu holen, damit er sich in der Nacht verirre. «Das nächste mal können sie sagen, was sie wollen, es ist mir egal. Ich werde mich nicht wieder in der Düne verlaufen, jetzt kenne ich sie, und wenn die Kobolde in meine Höhle kommen, dann verprügele ich sie. Mein Onkel hat gesagt, dass mir Flügel des Mutes wachsen werden.»

IV

Er suchte nach Trinkwasser. Es gab genügend Wasser, überall quoll es hervor. Dabei fiel ihm auf, dass es umso süßer wurde, je höher er stieg. Aber auch da schmeckte es noch erdig und nicht gut. Endlich entdeckte er einen schmalen Wasserlauf, der aus den felsigen Stellen kam und nach Feldthymian roch. Aber dieses gute Wasser kam nur tropfenweise aus dem Fels, als wenn es gebeten werden wollte, man brauchte ein Gefäß, um es aufzufangen. An verschiedenen Stellen erblickte er versteinerte Austernschalen, die im Mergel steckten. Fast alle waren zerbrochen. Früher war das Meer bis hierher gestiegen und hatte sie vor sich hergerollt. Nach gründlicherem Suchen fand er mehrere sehr große, vollständige. Geschickt passte er eine unter der anderen in den Wasserlauf ein, auf diese Weise konnten alle gefüllt werden und ihm einen immer verfügbaren und immer frischen Vorrat verschaffen. Er wartete und nahm eine wohlgefüllte Schale mit in seinen Garten zu seiner Mahlzeit. Er hatte nur trocken Brot, aber er war nicht an Konfitüren gewohnt und konnte sie leicht entbehren. Der Tag kam ihm nicht lang vor. Es war angenehmes Wetter, er freute sich daran, die Pflanzen zu betrachten, die auf seinem Rasen wuchsen und die nicht den Kräutern in der Ebene glichen. Es waren widerwärtige darunter, voller Dornen und Stacheln, aber er verzieh ihnen; sie waren wie Wächter, die ihn vor bösen Besuchen schützen sollten. Es gab aber auch sehr hübsche, die ihm gut gefielen und bei denen er aufpasste, dass er sie nicht niedertrat oder sich auf sie setzte, denn sie verschönerten die Umgebung seines Schlupfwinkels, und er hätte sich Vorwürfe gemacht, wenn er sie zerstört hätte.

An diesem Tag konnte er nicht genug bekommen, durch das Loch in der alten Mauer an der Steiluferseite, das er sein Fenster nannte, das Meer zu betrachten. Er fand es schöner denn je. In der Ferne schaute er verschieden großen Schiffen zu. Keines näherte sich den Schwarzen Kühen, die Gegend war als gefährlich verrufen. Heutzutage geht man von überall her hin zum Muschelsammeln. Damals war die Küste leer, keine Menschenseele war zu sehen. Diese große Einsamkeit machte ihm Mut. Gegen Abend sammelte er auf dem Strand Muscheln für sein Abendessen und untersuchte genau, ob man von außen sein Fenster sehen konnte. Das war unmöglich. Es war zu weit oben, zu klein, die Mauer zu gut hinter der Vegetation verborgen. Er konnte es mit seinen Augen nicht entdecken. In dieser Nacht schlief er ganz ruhig. Er war so viel gelaufen, so viel geklettert, um alle Winkel seiner Wüstenei zu erkunden, dass er nur noch schlafen wollte. Wenn die Kobolde wie am Abend zuvor wieder gerufen und gesprochen haben, er hat sie nicht gehört. Den dritten Tag verwendete er dazu, den unteren Teil der Düne auszukundschaften, damit er dort im Fall einer unangenehmen Überraschung auf dem Strand ein gutes Versteck finden konnte. Er fand gleich zehn, und nachdem alles hergerichtet und vorausbedacht war, kam er sich vor wie ein kleines wildes Tier, das seinen Auslauf und seinen Bau kennt. Er dachte auch daran, sich einen genügend großen Vorrat an Muscheln zuzulegen, um in der Höhle zu essen zu haben, wenn er nicht für jede Mahlzeit bis ans Meer hinunter steigen wollte. Es gab an der Küste viele Binsen, Ginster, Zwergweiden, biegsames Gesträuch. Er nahm Zweige mit hinauf und machte sich daheim (er sagte schon: daheim) einen schönen großen stabilen Korb. Auch ein ausgezeichnetes Bett baute er sich mit Algen vom Meeresstrand. Dann dachte er daran zu jagen, und da er geschickt im Steinewerfen war, erschlug er ein Sandrebhuhn, das auf dem Strand umherlief und spielte und das er lange beobachtet hatte. Es war ein hübscher fetter Vogel. Nun musste er gebraten werden. Clopinet hatte keine Mühe, Feuer zu machen. In seinem Bündel war ein Gegenstand, den man heutzutage Feuerzeug nennt und den damals jeder auf Reisen dabei hatte. Das war ein eiserner Ring mit einem Stück Zunder. Mit einem Stein hatte man fast so schnell Feuer wie heutzutage. Er machte aus welken Blättern und Ästchen einen Haufen, und es gelang ihm, seinen Vogel zu braten. Ich bürge nicht dafür, dass das Fleisch sehr gut war und nicht nach Rauch geschmeckt hat, er jedenfalls fand es köstlich und bedauerte, nicht einen Flügel seiner Mutter und einen Schenkel seinem Bruder Franz anbieten zu können. Das Sandrebhuhn ist keineswegs ein Rebhuhn, es ist eher eine Brachschwalbe. Es lebt von Muscheln, nicht von Körnern. Es ist sehr hübsch mit seinem Schnabel und dem Hals, womit es in der Tat ein wenig an ein Rebhuhn erinnert. Es ist etwa so groß wie eine Amsel. Wie man sieht – Clopinet lief nicht Gefahr, sich den Magen zu verderben.

Bei der Jagd auf dieses Wild hatte er viele andere Vögel gesehen, die ihn sehr verlockten, Meerschwalben, Regenpfeifer, Meerlerchen, die ebenfalls keine Lerchen sind, sondern eine Art kleine Wasserläufer, Austernfischer oder Meerelstern, Sägetaucher, Steinwälzer, Möwen, Meertaucher, schließlich noch eine große Zahl Federvieh, das er nicht kannte und das gegen Abend mit großem Lärm auf dem Sand herumtollte. Es fielen ihm sehr große Vögel auf, die auf hoher See schwammen und sich bei Sonnenuntergang noch weiter entfernten, sie schienen auf dem Meer zu schlafen. Andere kamen an Land zurück und glitten in die Spalten der Düne. Wieder andere schwangen sich auf, flogen hoch hinauf und schienen am Morgen in den weißen Wölkchen zu verschwinden, die wie Wellen über den rosigen Himmel zogen. Am Abend stiegen sie offenbar herab, um ihr Essen auf den Felsen und dem Sand einzunehmen. Clopinet dachte zunächst, dass sie den Tag am Himmel verbrachten, aber er sah einen sehr großen dieser Vögel, der zuoberst auf der Düne saß, sich von ihr erhob, durch die Luft flog hin zu seinem Fischrevier. Dann machte ein ähnlicher Vogel, der auch vom höchsten Gipfel der Düne wegflog, es genauso, und wieder einer. An die zwanzig zählte Clopinet. Er schloss daraus, dass diese Vögel ganz oben nisten und dass es Nachtvögel waren wie die Eulen.

Clopinet machte seine Beobachtungen von seinem Fensterloch aus, sah so die Vögel ganz aus der Nähe, ohne von ihnen gesehen zu werden; dabei fiel ihm etwas auf, was ihm viel Freude bereitete. Die Meerschwalben, die ihre Kreise über ihm zogen, ließen immer wieder etwas aus ihrem Schnabel fallen, was wie kleine Muscheln oder Fischlein aussah, und da sie sich gleichzeitig auf der Stelle wiegten und einen Schrei ausstießen, schien es, als ob sie absichtlich darauf aufmerksam machen wollten. Er verfolgte einen ganz bestimmten Vogel mit den Augen und schaute hinunter. Da sah er, dass sich etwas auf der Erde bewegte, als wenn es die Jungen wären, die sich die Nahrung zusammenholten, die ihre Mütter ihnen von oben zugeworfen hatten. Als er wieder unten auf dem Strand war, konnte er sich vergewissern, dass er sich nicht getäuscht hatte. Aber als er sich den Kleinen nähern und sie packen wollte, denn sie waren noch nicht flügge, stieß die Mutterschwalbe einen anderen Schrei aus, und statt die Jungen auf den Sand zu locken, sollten sie zum Land hin flüchten. Clopinet suchte sie im Gras, wo sie hingeduckt reglos verharrten. Er fand sie zwar, wollte sie aber nicht mehr nehmen, um der Mutter keinen Kummer zu machen, die wohl wusste, was auf dem Spiel stand.

Durch das Beobachten der Vögel beim Fischen lernte er es selbst. Es gab nicht nur Muscheln am Ufer: beim Rückzug der Flut lagen auf dem Sand auch viele sehr hübsche appetitliche Fische; man musste nur rechtzeitig da sein, ehe die Flut, die sie heran getrieben hatte, sie wieder mitnahm. Er sah, wie geschickt und listig die fischenden Vögel waren. Er machte es wie sie; aber die See war aufgewühlt, Clopinet hatte zwar keine Angst vor ihr, aber er begriff nun gut, dass ihm Flügel fehlten, um über die Wogen zu springen und dass seine Lust allein nicht ausreichte, um ein Vogel zu werden. Er hatte diese Fähigkeit nur in Momenten großer Gefahr und großer Verzweiflung gehabt, und die wünschte er sich nicht unbedingt zurück. Lieber wollte er selbst das Schwimmen lernen, und da er Vertrauen zum Meer hatte, konnte er schon nach einem Tag schwimmen wie eine Möwe, er wusste selbst nicht, wie das zugegangen war. Wahrscheinlich kann der Mensch von Natur aus genauso schwimmen wie alle Tiere, nur die Angst hält ihn davon ab.

Da die Vögel aber länger fliegen konnten ohne müde zu werden und besser in das Meerwasser hineinsehen als er, fing er weit weniger Fische als sie. Da ließ er den Wettkampf mit diesen geschickteren Schwimmern sein und beobachtete die Vögel, die nicht tauchten, sondern den noch nassen Sand mit ihren langen Schnäbeln durchwühlten. Er machte sich eine kleine Schaufel und wühlte auch im Sand und fand Sandaale im Überfluss. Ein Sandaal ist ein kleiner köstlicher Aal, der an dieser Küste in großer Zahl vorkommt; er briet sie für sein Abendessen. Wenn er Brot dazu gehabt hätte, wäre sein Mahl wahrhaft königlich gewesen, aber er hatte keines mehr und sich noch einmal in Villers zu zeigen und welches zu kaufen, wagte er nicht.

Er wollte so lange wie möglich darauf verzichten und nahm sich vor, Eier zu finden. Es war Brutzeit. Er wusste nicht, dass die meisten Wasservögel keine Nester bauen, sondern auf nackter oder fast nackter Erde oder auf Felsen brüten. So fand er zufällig da welche, wo er gar nicht gesucht hatte, aber sie waren so klein, dass das eigentlich nicht galt. Die großen Vögel, die große Eier legen müssten, brüteten wahrscheinlich ganz oben auf dem Steilfelsen, und für einen Menschen schien es unmöglich, dahin zu kommen; wenn der Fels auch von der Wüstenei aus nur halb so hoch war wie vom Meer aus, so war der Abhang immer noch so steil und von brüchigen Erdstellen durchsetzt, dass man schon vom Hinaufblicken Schwindel bekam.

Mit jedem Tag, der verging, wurde Clopinet weniger furchtsam, er nahm zu an Klugheit, das heißt, er wurde auf besonnene Weise tapfer, schätzte eine Gefahr ein, statt einfach vor ihr davonzulaufen. Er erkundete die Umgebung und die Beschaffenheit der großen Klippe, so dass er bis fast zum Gipfel ohne Gefahr hinaufsteigen konnte. Seine Mühe wurde belohnt, denn in einem Loch fand er vier schöne grüne Eier, die er in seinen mit Algen ausgepolsterten Korb legte. Er fand da auch schöne Federn, drei hob er auf und steckte sie an seine Kappe. Es waren lange, dünne schneeweiße Federn, sie kamen wohl vom Kopf oder vom Schwanz desselben Vogels. Da die Eier ganz warm waren, dachte er sich, dass die Mütter zum Brüten in der Nacht kommen müssten und dass er sie überraschen und ergreifen könnte. Aber er überlegte sich auch, dass er für einen oder zwei Beutevögel alle anderen erschrecken würde und Gefahr lief, dass sie dieses Lager aufgaben. Es war ihm lieber, immer, wenn er wieder hierher kam, nach Belieben Eier zu finden, also ließ er sie in Ruhe.

Schon waren acht Tage vergangen, und Clopinet hatte weder am Ufer noch in den Dünen eine Menschenseele gesehen. Er war so beschäftigt gewesen, dass er gar keine Zeit für Langeweile gehabt hatte. Aber als er bequem eingerichtet und seine Nahrung so gut wie gesichert war, als jeder Winkel der Dünen und des Ufers erforscht und ausgekundschaftet war, da wurde ihm der Tag lang, und er wusste nicht mehr viel anzufangen als zu schlafen. Schon kannte er die Gewohnheiten der Tiere, zwischen denen er lebte, ziemlich gut. Er hätte gerne ihre Namen gewusst, aus welchem Land sie kamen, hätte gerne weiter erzählt, was er beobachtet hatte, überhaupt mit jemandem geredet. Das Wetter war sehr schön, der Sumpf unten an den Dünen trocknete in der Maiensonne, und der Strand wurde bei Ebbe zu einem begehbaren Weg. Da sah er dann einige Menschen vorbeikommen, sein Herz schlug heftig, und er hätte gerne mit ihnen geredet, und sei es nur: «Schönes Wetter heute, da geht man gern spazieren», aber er getraute sich nicht, denn wenn man ihn gefragt hätte, wer er sei und was er hier mache, was hätte er antworten sollen? Er wusste, dass man Vagabunden verurteilte und sie manchmal aufsammelte und ins Gefängnis steckte. Und er hatte ein schlichtes Gemüt und war zu ehrlich, um sich einen falschen Namen zu geben und eine falsche Geschichte zu erfinden. Lieber ließ er sich nicht sehen.

An einem Morgen jedoch trug der Wind den Ton einer Glocke herbei, und ihm war klar, dass Sonntag war. Aus Gewohnheit zog er seine besten Kleider an, steckte die drei Federn an die Kappe, zog gute Schuhe an und machte sich wohl gekämmt und sauber gewaschen auf den Weg, ohne genau zu wissen wohin. Er war es gewohnt, am Sonntag in die Messe zu gehen. Das war der Tag, wo man sich traf, sich mit den jungen Leuten des Pfarrspiels unterhielt, mit Verwandten und Freunden. Man spielte Kegel, manchmal wurde getanzt. Dieses Glockengeläute war der Ruf zu Geselligkeit. Clopinet kam nicht in den Sinn, dass man an einem Sonntag allein bleiben konnte.

Wer weiß, vielleicht traf er ja seinen Bruder Franz? Er hätte viel darum gegeben, Neuigkeiten von seinen Eltern zu erfahren, also wagte er es. Der Schneider musste weit weg sein. Wie ein Vogel kürzte er den Weg ab, indem er quer durch die Wüstenei ging, und bald war er zwei Schritt von Villers entfernt. Da er dort niemanden und niemand ihn kannte, hoffte er, unerkannt zu bleiben, Christenmenschen zu sehen und den Klang menschlicher Stimmen zu hören, ohne dass man ihn groß beachtete. Das war ihm in dieser Gegend schon vorgekommen, denn zweimal war er schon hier gewesen. Aber diesesmal wunderte er sich sehr, denn alle starrten ihn an, die Leute drehten sich sogar nach ihm um und schauten ihm nach.

V

Das beunruhigte ihn, und er wollte sich gleich wieder auf den Rückweg machen. Aber da kam er an einer Bäckerei vorbei, und sein Appetit auf Brot war so groß, dass er an der Tür stehen blieb, um eines zu kaufen.

«Wieviel willst du denn, Bürschchen?», fragte der Bäcker und sah ihn mit freudig erstaunter Miene an.

«Könnten Sie mir ein recht großes geben?», sagte Clopinet, der gleich eines für mehrere Tage wollte.

«Freilich», antwortete der Bäcker, «auch zwei, oder sogar drei, wenn du sie tragen kannst.»

«O ja! Geben Sie mir drei», sagte Clopinet, «die kann ich leicht tragen.»

«Es gibt also viele hungrige Mäuler zu stopfen bei Euch?»

«Scheint so», antwortete das Kind, das nicht lügen wollte.

«Hoho! Du bist ganz schön stolz! Redest du nicht gern? Du willst nicht sagen, wer du bist und wo du wohnst, denn ich kenne dich nicht. Du bist nicht von hier?»

«Nein, ich bin nicht von hier. Aber ich habe keine Zeit zum Plaudern. Geben Sie mir bitte drei Brote und sagen Sie mir, was es kostet.»

«Na schön! Das kostet allerhand, Brot ist sehr teuer hier; wenn du mir aber die drei Federn von deiner Kappe geben willst, dann kannst du einen Monat lang jeden Sonntag wieder kommen und soviel Brot holen wie du willst, ohne dass du es bezahlen musst. Du siehst, ich bin anständig, und du kannst zufrieden sein.»

Clopinet glaubte zuerst, der Bäcker mache sich lustig über ihn. Aber als der Mann hartnäckig blieb, war er auf einmal so klug, um sich zu sagen, dass seine drei Federn wohl etwas seltenes waren und dass ihn nur deshalb, und nicht wegen ihm selbst, alle so angeschaut hatten. Er nahm sie schnell herunter, der Bäcker streckte schon die Hände nach ihnen aus, aber Clopinet, dem Geld nichts bedeutete und der glaubte, mit seinen zwei Talern sein Leben lang reich zu sein, weigerte sich, ihm die schönen Federn zu geben, die er unter Lebensgefahr so hoch oben gefunden hatte. «Nein», sagte er, «hier ist das Geld für Ihre drei Brote. Meine drei Federn behalte ich lieber selbst.»

«Möchtest du zweimal statt einmal in der Woche Brot?»

«Nein danke, ich bezahle es lieber.»

«Möchtest du zwei Monate lang vier Brote die Woche?»

«Ich habe gesagt, dass nein, meine Federn sind mir lieber», antwortete Clopinet.

Der Bäcker gab ihm die drei Brote, Clopinet bezahlte und ging. Aber da er für den Weg durch die Wüstenei kehrt machen musste, geriet er hinter das Haus des Bäckers und hörte, wie dieser sagte: «Nein, nicht einmal für achtundvierzig Pfund Brot wollte er mir seine Federn geben!»

Clopinet blieb unter dem Fenster stehen und hörte, wie die Bäckersfrau sagte: «Waren das wirklich Fockenfedern?»

«Ja, echte, und die schönsten, die ich je gesehen habe!»

«Teufel auch», sagte wieder die Frau, «die werden rar; die Focken nisten nicht mehr am Strand, und jetzt zahlt man für einen Reiherbüschel einen Taler das Stück. Du hättest drei Gulden dafür bekommen können! Man muss diesem Kleinen nachlaufen und ihm eine Silbermünze für jede Feder geben. Vielleicht ist ihm blankes Geld lieber als ein Brotguthaben.»

Wie wir wissen, war Clopinet blankes Geld nicht wichtig. Er beschleunigte seinen Schritt, und während der Bäcker ihn auf der einen Seite suchte, rannte er auf die andere und kehrte in seine Einöde zurück.

Dieses Abenteuer gab ihm viel zu denken. «Warum sind diese Fockenfedern, denn solche sind es, so kostbar? Wie kann es zugehen, dass Vogelfedern einen Gulden das Stück wert sind? Ich hätte gedacht, die steckt man sich nur zum Spaß an den Hut, und sieh an, wenn ich den Bäcker gebeten hätte, mich ein ganzes Jahr zu lang ernähren, vielleicht hätte er zugestimmt, nur um meine drei Federn zu bekommen!»

Da Clopinet noch nie Not gelitten hatte, war er nicht auf Geld aus. Wichtiger war ihm die Freude, etwas Seltenes zu besitzen, das vielleicht über eine wunderbare, unbekannte Kraft verfügte. Unter diesen Überlegungen ging er, ohne an Böses zu denken, auf dem Weg mitten durch die Dünen, da hörte er hinter sich eine grelle laute Stimme schreien: «Ihr sagt, er hat den Weg hier genommen, seid unbesorgt, ich hole ihn leicht ein, und wenn er mir seine Federn nicht verkaufen will, dann reiße ich sie ihm weg, dann haben wir sie umsonst, so macht man die besten Geschäfte.»

Die Stimme war noch weit weg, aber sie war so durchdringend, dass sie weithin zu hören war, und da es eine Stimme war, die man nicht vergisst, war Clopinet klar, dass ihm der Schneider höchstpersönlich auf den Fersen war. Sogleich trugen ihn seine Flügel der Angst weit weg vom Weg ins Gebüsch. Als er aber da war, schämte er sich, dass er einem Buckligen gegenüber so feige war, er, der doch die hohe Düne bestiegen hatte, der im Meer geschwommen war, zwei Dinge, die Linkerhand nie gewagt hätte, auch nur zu versuchen. «Ich muss ein Mann werden», sagte er sich, «und aufhören, vor einem anderen Mann Angst zu haben. Wenn nicht, bleibe ich immer unglücklich und kann nie dahin kommen, wo es mich gut dünkt. Ich bin genauso groß und stark wie dieser Bösewicht von einem Schneider, und Onkel Laquille hat gesagt, dass der nur Schwachen gegenüber tapfer ist. Schluss jetzt, ans Werk! mögen mich die guten Geister des Meeres beschützen!»

Mutig steckte er seine drei Federn wieder an die Kappe, legte seine drei Brote im Gras ab, packte seinen Stock, der solide war und eine Metallspitze hatte, und ging geradewegs auf den Schneider zu, entschlossen loszuschlagen und ihm auszutreiben, dass er ihm hinterherlaufe. Als er ihm gegenüberstand, rutschte ihm das Herz in die Hose und beinahe wäre er doch wieder geflohen. Aber sogleich schlug er mit den Armen und sagte sich, es seien Flügel des Mutes, und gekonnt ließ er seinen Stock durch die Luft wirbeln. Abrupt blieb der Schneider stehen und machte zwei Schritte rückwärts. «Sowas», sagte er grinsend, als wolle er ihm wohl. «Das ist ja mein kleiner Lehrling! Hoppla! Hinkebein, mein Süßer, du kennst mich doch, ich bin dein Freund, ich will dir nichts tun.»

«Von wegen», antwortete Clopinet, «Ihr wollt mir meine drei Federn stehlen, das weiß ich.»

«Ach was!» sagte der Schneider ganz erstaunt, «wer sagt denn so etwas?»

«Wahrscheinlich die Geister», antwortete Clopinet, der auf einem großen Stein am Wegrand stand, immer bereit, seinen Schatz und seine Freiheit zu verteidigen. Kaum hatte er das gesagt, als Linkerhand erbleichte und zitterte, denn mehr als alle glaubte der Bucklige an Geister. «Weißt du, Kleiner, du bist ganz schön böse! Sag mir, wo die Focken nisten, von denen du solche Federbüschel hast, was anderes will ich nicht.»

«Die nisten an einer Stelle, wo nur Vögel und Geister hinkommen. Damit wissen Sie nun, dass ich Sie nicht fürchte, und falls Sie noch etwas gegen mich im Schilde führen, dann trage ich Sie dahin so wie eine Focke ihre Krabbe und gebe Ihnen dann einen Schups, dass sie ins Meer hinunterrollen.»

Ich weiß nicht, welche Wut und welcher Stolz ihn zu diesen Worten getrieben haben. Der Schneider jedenfalls glaubte, dass er sich mit Kobolden eingelassen hat, machte auf dem Absatz kehrt, murmelte Unverständliches und rannte so schnell wie möglich nach Villers zurück. Clopinet war aufs höchste verwundert über seinen Sieg, ging quer über die Düne zurück, holte die Brote und trug sie mühelos in seine Höhle.

Dort redete er laut mich sich selbst – denn es drängte ihn nach Worten: «Es ist vorbei. Von nun an habe ich nie mehr vor jemandem Angst, und kein Mensch wird mich je mehr dahin bringen, wo ich nicht hin will. Jetzt bin ich befreit, und wenn es der Geist des Meeres war, der mir Mut verliehen hat, so will ich dieses Geschenk nie mehr verlieren. Jetzt werde ich«, so fuhr er fort, «noch mehr Federn von diesem erstaunlichen Vogel suchen, auf dessen Federbüschel, warum weiß ich nicht, alle Welt so aus ist; wenn ich genügend habe, verkaufe ich sie, und ich werde zu meinem Vater sagen: ich muss kein Schneider mehr werden, und wenn ich auch hinke, so kann ich doch an einem Tag mehr Geld verdienen als meine Brüder in einem Jahr. Dann wird der Vater zufrieden sein und mir meinen Willen lassen.»

Er freute sich, wieder in seiner Einöde zu sein und war so froh, Brot zu haben und das soeben gekaufte war so gut, dass er sich an diesem Tag von nichts anderem ernährte. An den vorherigen Tagen war er ein wenig von der Sorge beherrscht gewesen, zu oft fasten oder für jede Mahlzeit fischen zu müssen. Jetzt war er sich sicher, jederzeit herumlaufen und das, was er wollte, einkaufen zu können, er würde sich für sein Essen nicht mehr auf kleine Vögel oder kleine Fische beschränken müssen. Er wollte prächtige Federbüschel haben, mit denen er alle Einwohner der Gegend neidisch machen konnte, der geizige Schneider sollte platzen vor Wut.

Am nächsten Tag startete er ein gefährliches und schwieriges Unternehmen. Ohne den Tag abzuwarten, stieg er mitten zwischen den zerklüfteten Spitzen des Steilfelsens in die Höhe, und zwar so geschickt und leichtfüßig, dass er keinen einzigen Vogel aufweckte. Dann legte er sich leise auf die Seite, so, dass er gut sehen konnte, ohne sich bewegen zu müssen. Es war das erste Mal, dass er sich hierher gewagt hatte; zu seiner Verwunderung fand er eine Ruine, die man erst sah, wenn man unmittelbar auf sie stieß, er konnte sich aber ihre Bestimmung erklären. Der Ort dort war sehr klug gewählt, um Vögeln, die gerne weit oben wohnen, als Schutz zu dienen. Früher hatte man hier einen Ausguck eingerichtet, heute nennt man so etwas einen Semaphor. Ihr habt so einen schon einmal gesehen an einem anderen Ort in den Dünen. Von da aus kann man alles beobachten und dann mitteilen, was auf dem Meer geschieht. Früher war das eine einfache Beobachtungsbaracke, um Salzdiebstahl zu verhindern, das war ein weit verbreiteter Schmuggel. [sous le nom de faux saulnage]

Die bewusste Baracke war von einem Stück des großen Felsen zum Einsturz gebracht worden. Ihre losen Bretter und das Gebälk standen teilweise aufrecht in einen Felsspalt geklemmt, und die Focken, die Bäume liebten, aber wegen ihres kostbaren Federschmucks in den Wäldern und Sümpfen des Landes sehr gejagt worden waren, hatten ihre Kolonie in der von außen nicht sichtbaren und lange Zeit vergessenen Ruine eingerichtet. Nur wenig von dem Felssturz entfernt hatte sich ein Tümpel gebildet, und auch viele andere Wasservögel hatten ihre Wohnstatt hierher verlegt.

Dieser Ausguck erklärte auch die Einsiedelei mit ihrem Guckloch weiter unten, die ebenfalls verlassen war. Zweifellos war das eine Schutzhütte, die sich die Wächter, die auf diesem gefährlichen Posten leben mussten, heimlich gebaut und ausgehöhlt hatten, damit sie sich bei Sturm besser schützen konnten, ohne von ihren Vorgesetzten einen Verweis einstecken zu müssen.

Clopinet wusste seit seinem kurzen Aufenthalt in Trouville besser Bescheid als vorher und war froh zu sehen, dass er als einziger das Geheimnis seiner Bleibe und der Bleibe der Focken kannte. Er beobachtete ihre Nester, die grob aus Zweigen zusammengebaut waren, immer in Winkeln des Holzgebälks. Erst sah er nur Weibchen, die, ohne sich stören zu lassen, brüteten, aber mit der Zeit kamen auch die Männchen und ruhten sich von der nächtlichen Jagd aus. Wegen ihres Verhaltens und auch wegen ihres Schreis haben die Naturwissenschaftler sie früher nycticorax genannt, Nachtraben. Sie gehören zur selben Familie wie die Reiher. Ihr echter Name ist bihoreaux – Nachtreiher. Sie haben ein dichtes Federkleid, ihr Flug ist lautlos wie bei den Nachtvögeln. Wenn sie Junge haben, jagen sie jedoch auch am Tag. Aber es gab noch keine Jungen in der Kolonie, und die Herren Reiher kamen zum Schlafen her, nachdem sie ihre Damen gefüttert hatten. Clopinet hatte sie bisher nur von unten gesehen und geglaubt, sie seien ganz weiß, jetzt sah er, dass nur Hals und Bauch weiß waren. Ihre Flügel waren perlgrau. Ein hübscher dunkelgrüner Mantel bedeckte den Rücken, und von ihrer ebenfalls grünen Kappe hing dieser lange feine Federbüschel auf den Rücken hinunter, der unveränderlich immer aus drei Federn bestand. Nur die Männchen schienen diesen reichen Kopfputz zu haben. Clopinet sah jedoch, dass mehrere keinen, keinen mehr oder noch keinen hatten. Sie waren gerade in der Mauser, und viele der kostbaren Federn waren über die Felsen verstreut, und der Wind spielte mit ihnen. Clopinet rührte sich jedoch nicht und sammelte keine auf, er wollte die Gewohnheiten dieser Nachtstreuner erfahren, die, ohne ihn zu beachten, den brütenden Weibchen Fische, Muscheln und Insekten brachten. Nach der Mahlzeit bemerkten sie die Anwesenheit des Fremden, und, gewarnt durch den Schrei eines Vogels, wandten ihm alle gleichzeitig den Kopf zu.

Zuerst war Clopinet etwas aufgeregt, als er alle die großen roten auf ihn gerichteten Augen sah. Es waren gut an die fünfzig Männchen da, groß wie junge Truthähne, bewaffnet mit langen Schnäbeln und spitzen Krallen. Wenn sich alle über das neugierige Kind hergefallen wären, hätten sie ihm übel mitspielen können. Aber sie betrachteten ihn nur verwundert, und da er sich nicht regte, zankten sie sich nur untereinander mit kleinen Flügelhieben, ohne sich zu verletzen, dann kratzten sie sich, reckten und dehnten sich, gähnten sogar wie müde Menschen. Schließlich suchte sich jeder einen bequemen Ort, alle schliefen auf einem Fuß gen Osten gerichtet ein. Da stand Clopinet vorsichtig auf und sammelte Federn ein, ohne sie zu stören, danach stieg er wieder hinab, weise darauf bedacht, ihnen ihren Schlafplatz nicht zu verleiden und nie mehr den Weibchen Eier wegzunehmen.

In der nächsten Nacht ging er wieder hin ehe die Männchen von ihrer nächtlichen Jagd zurück waren. Er weckte die Glucken nicht auf und legte Brot vor ihr Nest, denn er dachte sich, dass ihnen das schmecken müsste und sie ihm dankbar wären. Damit täuschte er sich nicht, wenn es auch die Idee eines Kindes war. Fast alle Vögel mögen Brot, wie auch sonst ihre Nahrung beschaffen sein mag, und am nächsten Morgen sah er, dass es aufgefressen war. Er fuhr damit fort, und bald hatten sich alle Nachtreiher, Männchen wie Weibchen, an ihn gewöhnt, sie wichen nur wenig zurück, wenn er sich näherte und bald überhaupt nicht mehr. Es waren gerade erst geschlüpfte Vögel darunter, die ihn kennenlernten, ehe sie die Angst vor Menschen lernten. Sie waren so zahm geworden, dass sie zu ihm hingingen, sich auf seine Knie legten, ihm aus der Hand fraßen und ihm bis zum Rand der Düne folgten, wenn er wieder ging.

Diese Beschäftigung machte ihm so viel Vergnügen, dass er keine Langeweile mehr kannte. Mit der Zeit liebte er diese wilden Vögel mehr, als er jemals seine Tauben und Hühner geliebt hatte. Er achtete solch gewöhnliche Freundschaften nun gering und war stolz, die scheuen Vögel gezähmt zu haben, deren Nistplätze die Menschen dort vergeblich suchten und denen sie sich nicht nähern konnten. Er empfand auch Zuneigung zu allen anderen Vögeln, und er merkte, dass er sie nicht vertrieb, wenn er, bedächtig und leise, auf all seinen Wegen Brot verstreute, keinen Vogel angriff oder aufscheuchte, und dass er ihnen zuschauen konnte, wie sie sich dicht bei ihm niederließen, herumflatterten und sich ergötzten. Er machte sich Vorwürfe, das Sandhuhn getötet zu haben und kaufte sich Käse und Fleisch, um nicht mehr in Versuchung zu geraten, die Gefährten seiner Einsamkeit zu töten.

Seine Einkäufe erledigte er nicht in Villers, aus Angst, wiedererkannt und belästigt und womöglich vom Bäcker verfolgt zu werden. Er hatte einen Weiler ganz in der Nähe entdeckt, der auf der Düne selbst lag, auf der abfallenden Seite zum Festland hin. Ich glaube, dieser Weiler hieß Auberville. Da fand er alles, was er begehrte und sogar noch Äpfel, die sich gut gehalten hatten und die er teuer bezahlte. Aber so vernünftig war er nicht, dass er nicht auch einigen Unsinn gemacht hätte. So trank er ein Krüglein Apfelwein; das mochte er so gern! Gewissenhaft achtete er darauf, seinen Federbusch nicht anzustecken und nicht zu viel zu reden. Zwei Geheimnisse galt es zu wahren, seinen Namen und seine Heimat, damit er nicht mit Gewalt zu seinen Eltern zurückgebracht wurde, und seine Wohnstatt in den Steilfelsen, damit nicht neugierige Kinder oder Federbuschsammler hingelockt wurden. Durch aufmerksames Zuhören erfuhr er allerhand über die Gegend und merkte, dass sich die jungen Leute ziemlich gut auskannten mit dem Verhalten der Küstenvögel. Für sie gab es nur zwei kostbare Arten: die Focken oder Nachtreiher, deren man nicht mehr habhaft wurde, zu gut versteckten sie sich oder nisteten überhaupt nicht mehr im Land, und die Haubentaucher, die nur vorüberzogen und die man so sehr gejagt hatte, dass sie selten und scheu geworden waren. Clopinet erkundigte sich nach den Haubentauchern und erfuhr, dass ihr dichtes glänzendes Bauchgefieder wie Schmuckpelz den Federhändlern verkauft wurde, die zweimal im Jahr vorbei kamen. Da er schon ein Dutzend Federbüschel hatte, wollte er wissen, an welchem Tag und zu welcher Stunde diese Händler kamen, um mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Aber er wollte nicht zu viele Fragen auf einmal stellen und nahm sich vor, sich ein andermal zu informieren.

VI

Zu seiner Verwunderung suchte niemand die Nachtreiher an der Stelle, wo er sie gefunden hatte; den Grund dafür erfuhr er durch eine leicht beunruhigende Geschichte. Einer erzählte, dass man sie früher auf den Bäumen am großen Steilfelsen gefunden hatte, aber seit ein großes Stück von ihm ins Meer gefallen war und keine Bäume mehr die Erde zurückhielten, ging man nicht mehr hin. Man nahm an, dass das Gewicht eines Menschen ausreichen würde, um den Felsen ganz zum Einsturz zu bringen. Clopinet ging ein wenig aufgeregt weg, er, der doch in diesem Felsen wohnte und fast jeden Tag ganz auf ihn hinaufstieg!

In der Nacht hatte er Angst. Es herrschte starker Seegang, und das Meeresrauschen drang mit jedem Windstoß zu ihm hin. Jedesmal wachte er auf und dachte, es sei der Fels, der einbricht. Er hatte alles rundum sehr gut erforscht und wusste, dass seine Einsiedelei aus dem gleichen Material bestand wie die großen Schwarze Kühe und Weiße Kühe genannten Steine, die einmal auf festem Erdboden gestanden und mit ihm abgerutscht waren. Das Meer nagte weiterhin am Fuß der Dünen, und jeden Winter fraß es, wie man sagte, einige große Stücke davon. Der Untergrund, auf dem die gewaltigen Steinblöcke standen, die die Zuflucht Clopinets zu sichern schienen, konnte genauso brüchig sein wie das Erdreich war, das sie bedeckte; und auch, wenn sie nicht unter ihm davon rutschen sollten, so konnten doch die über ihm abbrechen, ihm den Ausgang versperren und ihn lebendig in seiner Höhle begraben. Er schlief kaum, denn je mehr er überlegte, um so mehr spürte er, dass Nachdenken und Schlussfolgerungen ziehen zwar notwendig ist, aber auch traurig machen und eine Quelle von tausend Ängsten sein kann. Zum Glück war dieses Kind von einer Leidenschaft beherrscht, die stärker war als die Angst vor der Gefahr: es wollte frei sein und Herr seiner selbst in der Natur. Er kannte dieses Wort – Natur – nicht, aber er war überwältigt vom Leben in der Wildnis, und voll Stolz wollte er der Versuchung widerstehen, zum geruhsamen Landleben und in den Schoß der Familie zurückzukehren. Er blieb also in seinem Vogelnest und dachte sich, dass die Vögel, die hoch über ihm nisteten, wohl besser Bescheid wüssten als die Menschen und instinktiv wussten, dass der Berg solide war.

Er verbrachte den ganzen Sommer dort, versah sich mal hier, mal da mit Vorräten, gab sich nirgends zu erkennen und gewöhnte sich mehr und mehr daran, von den Schätzen des Meeres und von wilden Früchten zu leben, er wollte nicht zum Sklaven seines Bauchs werden. Mit der Zeit wurde er so genügsam, dass ihn die Leckerbissen, die es auf dem Land gab, nicht mehr verlockten. Es gelang ihm, die Federhändler auf ihrer Rundreise zu treffen und sich mit ihnen ohne Zeugen zu bereden. Er war vernünftig genug, keine zu großen Ansprüche zu stellen, denn er wollte auch in Zukunft mit ihnen im Geschäft bleiben. Er war zufrieden mit einem großen Gulden für jede Feder, und da er an die fünfzig aufgesammelt hatte, wurden ihm dreihundert Taler in schönen Goldtalern ausbezahlt, eine Riesensumme damals, die bestimmt noch nie ein Junge seines Alters verdient hatte.

Als er nun Herr über ein so großes Vermögen war, beschloss er, es seinen Eltern zu bringen. Aber davor wollte er erst seinen Onkel Laquille besuchen; bei Winteranfang machte er sich auf den Weg nach Trouville. Da er sich seiner Familie anständig präsentieren wollte und seine Kleider, auch die besten, durch die ständigen Klettereien und mangelnde Pflege sehr abgenützt waren, kleidete er sich in Dives, wo er sich schon einige Male gezeigt hatte, vollständig neu ein, kaufte einige Wäschestücke und gute Schuhe. Alles zahlte er höchst angemessen und ging dann, den Stock in der Hand und das Geld in der Tasche, nach Trouville; da traf er seinen Onkel an, wie er gerade weinend aus der Kirche kam. Er hatte seine Frau beerdigt, aber obwohl sie ihn über die Maßen unglücklich gemacht hatte, beweinte sie der gute Mann, als ob sie ein Engel gewesen wäre. Er war sehr erstaunt, Clopinet wieder zu sehen, er hatte geglaubt, er sei zu seinen Eltern zurückgekehrt; fast hätte er ihn nicht wieder erkannt, so sehr hatte er sich verändert. Ohne es selbst zu merken, war Clopinet gewachsen, die Seeluft hatte ihn braungebrannt; das ständige Klettern und Hin- und Herlaufen hatte ihn kräftig gemacht, sein schwaches Bein war genauso stark geworden wie das gesunde, er hinkte überhaupt nicht mehr. Auch sein Gesicht sah anders aus, er blickte lebendig, durchdringend, mit sicherem, ernsthaftem Ausdruck. In seiner Kleidung, die besser war als das, was Linkerhand routinemäßig für die Bauern anfertigte, machte er ebenfalls eine gute Figur und sah besser aus als früher. Laquille war das sofort aufgefallen. Er rief aus:

«Wo kommst du denn her? Du kommst nicht von daheim?»

«Nein», sagte Clopinet, «aber erzähle mir schnell, was es Neues daheim gibt. Von mir reden wir dann später.»

«Ich weiß nichts Neues», antwortete der Onkel. «Als du von uns mitten in der Nacht ausgerissen bist, vor bald… sechs Monaten… glaube ich…»

«Ja, Onkel, ich habe die Monde gezählt».

«Aha! Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und dich gesucht, so gut es mir möglich war. Aber nach vierzehn Tagen ist der Schneider vorbeigekommen und hat erzählt, dass er dich bei Villers gesund gesehen hat und dass er dich nicht zum Mitgehen zwingen wollte, da er dachte, deine Familie hat dich wieder zu sich genommen und dich dahin zum Einkaufen geschickt. Da habe ich mir dann keine Gedanken mehr um dich gemacht, und da meine arme Frau krank geworden ist, konnte ich nicht mehr weggehen, nur, wenn es sein musste, ans Meer, und deshalb habe ich nichts von deiner Familie gehört. Die glauben natürlich, du fährst zur See, denn so war es doch abgemacht mit deinem Bruder Franz, der auch dieser Meinung ist und das erzählt hat. Ich glaube, dass du jetzt ohne weiteres heim gehen kannst und keine Angst haben musst, dass sie dich wieder zum Schneider schicken. Ich weiß nicht, was du ihm gesagt hast, als du ihn getroffen hast, er jedenfalls hat geschworen, dass er lieber den Teufel zum Lehrling nehmen möchte als einen solch seltsamen und störrischen Burschen wie dich. Ich habe mir gedacht, dass du ihm die Zähne gezeigt hast und habe dich nicht dafür gescholten.»

«Ich habe ihm meinen Stock gezeigt», antwortete Clopinet. «Ihr habt es vorhergesagt, lieber Onkel, dadurch sind mir Flügel des Mutes gewachsen.»

Und dann erzählte er ihm seine ganze Geschichte und zeigte dem bass erstaunten Matrosen seine dreihundert Taler.

«Sieh an!», rief Onkel Laquille aus, «nun bist du reich, du kannst aus deinem Leben machen, was du willst. Sobald du dich nützlich machen kannst, wird dir niemand mehr verweigern, dich einzuschiffen, und du kannst in ferne Länder fahren, wo es noch ganz andere seltenere und wunderbarere Vögel als deine Focken gibt: den Weißschwanz-Tropikvogel, die weißen amerikanischen Reiher, Paradiesvögel, den Phönix, der sich aus der Asche erhebt, Kondore, die Ochsen packen, und hundert andere, die du dir gar nicht vorstellen kannst.»

«Du hast recht, genau das fehlt mir», sagte das Kind. «Ich weiß nichts, und es braucht Wissen.»

«Man lernt alles auf Reisen».

Dieser schöne Ausspruch des Onkels überzeugte das Kind nicht so recht. Laquille war um die Welt gefahren, hatte aber das Lesen nicht gelernt, und bei ihrem Gespräch merkte Clopinet nun, dass er über die einfachsten Dinge ganz falsche Anschauungen hatte; er glaubte zum Beispiel, dass manche Vögel nichts aßen und von der Luft lebten, dass andere sich nicht fortpflanzten, sondern aus Entenmuscheln, Knollenmollusken geboren wurden, die an Schiffskielen klebten. Clopinet war zwar sehr romantisch veranlagt, er glaubte an Feenvögel, das heißt, an Geister, die Gestalt und Stimme von Vögeln annehmen; aber er hatte die Gesetze des Lebens schon zu genau beobachtet, um die Irrtümer und Vorurteile seines Onkels zu teilen.

Die Idee zu reisen verlockte ihn jedoch. Um gegen die Langeweile in seiner Einsamkeit anzukämpfen, hatte er schon sehnsüchtig von langen Reisen geträumt. Laquille riet ihm, nach Honfleur zu gehen und sich da nach England einzuschiffen; solche Schiffe stehen immer bereit. Dort brüten die Haubentaucher, Clopinet könnte sich so viele holen wie er nur wollte. Als das Kind aber erfuhr, dass man sie töten und ihnen die Haut abziehen müsse, um das Federwerk zu bekommen, schüttelte er den Kopf. Das erfüllte ihn mit Abscheu.

Als er nach dem Essen mit seinem Onkel am Strand spazieren ging, kamen sie wieder auf das Thema zu sprechen. Clopinet war ganz aufgeregt und durcheinander beim Anblick der großen Boote, die sich für die Abreise nach Honfleur am nächsten Tag bereit machten. Er war fast schon dazu entschlossen, sich mit einem Kapitän auf solch einem Schiff zu verständigen, als er in der dunklen Nacht die leisen wohlbekannten Kinderstimmen im Vorüberziehen hörte.

«Da sind sie», rief er, «da sind sie, sie suchen mich!» Der Onkel verstand nicht, was das heißen sollte, er blieb mit offenem Munde stehen und wartete auf eine Erklärung. Clopinet blieb sie ihm schuldig; mit ausgebreiteten Armen rannte er dem Flug der unsichtbaren Geister nach, die ihn immer noch riefen. Zuerst flogen sie den Strand entlang, dann schienen sie sich in Richtung Anlegestelle zu wenden, aber plötzlich machten sie eine Kehrtwendung, wandten sich vom Ufer ab und nahmen den Weg landeinwärts. Clopinet lief ihnen nach so schnell er konnte, aber es gelang ihm nicht, abzuheben, außer Atem kam er zu seinem Onkel zurück, der ihn für verrückt hielt.

«Sag einmal, mein Kleiner», sagte der gute Mann, «hältst du denn wirklich die Brachvögel für Geister?»

«Brachvögel? Was meinen Sie, Onkel?»

«Kennst du denn diese Vögel nicht? Freilich, sie fliegen nur in ganz dunkler Nacht, deshalb sieht man sie nie. Man würde sie nicht kennen, wenn nicht manchmal jemand auf gut Glück in den Haufen schießen würde, was selten gelingt, denn sie fliegen schneller als eine Gewehrkugel, heißt es. Ich stimme zu, das sind ungewöhnliche Vögel, sie legen ihre Eier in die Wolken und der Wind brütet sie aus.»

«Nein, Onkel», sagte Clopinet lebhaft, «wenn diese Brachvögel, wie du sie nennst, wirklich Vögel sind, dann legen sie ihre Eier nicht in die Wolken, und wenn es keine Vögel sind, wenn diese Stimmen Geistern gehören, wovon ich überzeugt bin, dann legen sie überhaupt keine Eier. Kann schon sein, dass ihr Gesang an den von Brachvögeln erinnert, ich habe selber beim erstenmal, als ich sie hörte, gedacht: nun, das sind vorbei fliegende Nachtvögel. Aber als ich genau hinhörte, verstand ich ihre Worte. Sie haben mich gerufen, sie haben mir Flügel wachsen lassen, sie haben mir beigebracht, wie man über das Meer läuft, ohne nass zu werden, damals, als ich die Nacht auf der Großen Schwarzen Kuh verbracht habe. Sie haben mir geholfen, bei Euch durch die Dachluke zu entkommen, die haben mich gerettet und getröstet. Ich glaube an sie, ich liebe sie, und ich gehe überall hin, wo sie mich hinschicken.»

«Und trotzdem bist du ihnen gerade eben nicht weiter nachgelaufen?», fragte der Onkel.

«Sie wollten es nicht; aber sie haben mir genau gezeigt, dass ich mich heute Nacht nicht einschiffen soll, denn sie haben das Meer verlassen. Sie sind dorthin, Richtung Süden, geflogen. Sagt mir, ist dort mein Zuhause?»

«Ja, das stimmt, drei Meilen geradewegs vom Meer.»

«Also gut! Dann muss ich morgen früh dahin gehen. Ich muss zu meinen Eltern und sie küssen und ihnen das Geld geben, das ich verdient habe.»

«Sehr gut. Aber sie werden es behalten, und dann kannst du nicht mehr auf Reisen gehen.»

«Dann könnte ich immer wieder in mein Felsloch gehen und einen neuen Vorrat an Federn holen. Bis dahin werden sie mir dann erlauben, Seemann zu werden.»

Gesagt, getan. Er ließ sich den Weg zeigen, und am nächsten Tag stand er gegen Mittag an seiner Zauntür.

VII

Der erste Mensch, den er sah, war seine Mutter, die ihn trotz seines veränderten Aussehens schon von weitem erkannte und fast vor Freude gestorben wäre, als sie ihn an sich drückte. Clopinet war sehr gerührt, denn in seiner Einsamkeit hatte er sich vorgestellt, dass sie ihn nur ein kleines bisschen liebe, und nun sah er, dass sie ihn umso mehr liebkoste, als sie gezwungen worden war, ihn ziehen zu lassen. Vater Liebig, sein Bruder Franz und die anderen liefen herbei und taten ihm viel Ehre an, denn sie sahen, dass er gut angezogen und gesund war und von seinem Hinken geheilt, das alles bewies schließlich, dass er auf seinen Reisen nicht gelitten hatte. Sie alle dachten, dass er von weit her komme, selbst Franz, denn Onkel Laquille hatte ihn im Glauben gelassen, dass keiner ihn wieder gesehen habe. Vater Liebig schimpfte Clopinet jedoch ein wenig aus, weil er eigenwillig, gegen den Willen der Familie, gehandelt hatte und verfehlte nicht anzumerken, dass er eine Last für die Seinen werden würde, wenn er sein Leben nicht selbst verdienen könne. Clopinet war anständig und hielt sich zurück; ohne sich wichtig zu tun, präsentierte er seinem Vater die Geldbörse und sagte: «Ich hoffe, weiterhin mein Leben ehrlich verdienen zu können, ohne einem Menschen oder einem Tier etwas zu Leide zu tun. Hier seht Ihr, was ich für sechs Monate Arbeit verdient habe, und wenn Ihr dieses Geld brauchen könnt oder es Euch auch nur Freude macht, dann nehmt es bitte, lieber Vater. Ich denke, dass ich Euch nächstes Jahr noch mehr bringen werde.»

Die ganze Familie riss die Augen auf, als sie Clopinets Taler sahen, aber Vater Liebig schüttelte den Kopf. «Woher hast du dieses Geld, mein Junge? Das musst du mir erklären, denn wenn ich auch nur ein Bauer bin und nie Meer und Städte bereist habe, das weiß ich: ein Schiffsjunge oder sonst wer in deinem Alter verdient dann schon genug, wenn er sein Essen verdient.»

Clopinet, der sah, dass sein Vater ihn verdächtigte, Unrechtes getan zu haben, erzählte ihm die Wahrheit über die Quelle seines Reichtums, und der Vater glaubte ihm, denn jedermann dort wusste, dass gewisse Federn bei den Federhändlern äußerst begehrt waren. Allerdings hatte Vater Liebig beobachtet, dass es im Pays d’Auge keine Focken mehr gab und dass Clopinet sie also woanders gefunden haben musste; er glaubte immer noch hartnäckig daran, dass Clopinet den Sommer auf Reisen verbracht hatte. Clopinet hatte sich geweigert, seinem Onkel Laquille zu erzählen, wo genau sich der Ort am Ufer befand, an dem er sich den Sommer über aufgehalten hatte. Auch seinen Eltern gegenüber ging er nicht aus der Reserve. Er wusste, wenn er von den Großen Kühen und dem Steilufer erzählt hätte, dann würde er nie mehr die Erlaubnis bekommen, dorthin zurückzukehren und in einer als so gefährlich bekannten Gegend zu wohnen. Er ließ seine Eltern also im Glauben, dass er aus Schottland komme – sein Onkel hatte diesen Namen einmal genannt – und dort reiche Beute gemacht habe.

So kam er um viele Fragen am ersten Tag herum. Da bei ihm zuhause niemand etwas von fremden Ländern wusste, brauchte er nicht viel zu erfinden. Er erzählte, dass man in Schottland Brot, Gemüse und Fleisch isst wie überall, dass die Bäume nicht mit den Wurzeln gen Himmel wachsen, letztlich, dass er dort genauso wenig Wunder gesehen habe wie sonst auch.

«Sehr gut, sehr gut», sagte sein Vater nach dem Abendessen. «Mir gefällt an dir, dass du uns keine Lügen und Verrücktheiten auftischst wie dein Onkel Laquille. Bleib vernünftig und alles geht gut, denn du verfügst über die Fähigkeit, Sachen zusammenzutragen und zu verkaufen und Handel zu treiben. Ich will dir dein Geld nicht wegnehmen, es gehört dir, ich werde gutes Land davon kaufen, das dann dir gehören soll. Das soll der Anfang für dein Vermögen sein.»

«Wenn ihr kein Geld für Euch wollt, würde ich es lieber weiter für meine Reisen verwenden und andere Funde machen», antwortete Clopinet.»

Was Laquille vorhergesagt hatte, geschah. Vater Liebig wollte nicht auf seinen Sohn eingehen. Er konnte sich keine andere Geldanlage vorstellen als ein Stück Grasland und Apfelbäume und ein paar Kühe. Er meinte, es sei nicht richtig, wenn ein Kind über eine solche Summe verfügte. Zwar lobte er ihn, dass er so klug gewesen war, das Geld nach Hause zu bringen, aber trotzdem, er traute ihm irgendwie zu, dass er vielleicht doch eine Dummheit begehen könnte, wenn er es zurückbekäme. Clopinet musste nachgeben. Das war so, als ob man ihm die Flügel gebrochen hätte. Traurig ging er ins Bett, seine Reisen waren auf später aufgeschoben. Aber da träumte er, dass die Geister zu ihm sprachen und ihm folgendes sagten: Sei voll Hoffnung, wir verlassen dich nicht. Du warst uns zu Willen, und das werden wir dir vergelten.

Er fand sich also drein, und – das muss man zugeben – hatte absolut nichts dagegen, in einem dicken warmen Federbett zu schlafen. Seit etwa vierzehn Tagen hatte sich die Kälte bemerkbar gemacht, und es war nicht mehr sehr angenehm in seiner Höhle gewesen, wo er nichts gegen die eindringende Feuchtigkeit und den Wind unternehmen konnte. Es war gut wohnen bei Vater Liebig, es gab keine Armut und keinen Geiz, es war kein Mangel weder an gutem Brot noch an gutem Apfelwein, und Mutter Lieb konnte eine wunderbare Specksuppe kochen. Clopinet war ihr Liebling. Sie herzte und küsste ihn so zärtlich, dass er nicht widerstehen konnte und sich vom Familienleben einlullen ließ, so weit, dass er sich dazu entschloss, die schlechte Jahreszeit in ihrem Schoß zu verbringen. Er sah all die Schwärme der Zugvögel vom Meer her kommen in Richtung Landesinnere, sei es, um in den Sümpfen zu überwintern, sei es, um wärmere Meere aufzusuchen. Er sagte sich, dass es nicht die Jahreszeit war, Nester im Norden zu finden. Er wusste noch nicht, dass manche Arten auch in die andere Richtung flogen und die Kälte suchten.

Da er nicht zu sehr lügen wollte, hatte er seinem Vater gesagt, dass ihn kein Vertrag zwinge, wieder zur See zu fahren. Er wollte seine Eltern so weit bringen, dass sie ihm seine Freiheit gaben und ihn ohne Ärger einmal ziehen ließen. Da er aber nicht bleiben konnte, ohne zu arbeiten, musste er wohl oder übel wieder die Kühe hüten und besorgen. Das gefiel ihm nicht. Diese schweren trägen Tiere missfielen ihm mehr und mehr. Die flachen Weiden ohne Ausblick machten ihn traurig, sein Geist flatterte immer über dem Meer und den Steilfelsen. Eines Tages schickte ihn sein Vater nach Dives, um beim Heilkundigen eine Arznei zu holen; damals sagte man noch nicht Apotheker, aber es war das gleiche, eigentlich bedeutete es viel mehr. Die Darreichung von Arzneien war schwieriger, die Hersteller und Verkäufer von Heilmitteln mussten viel mehr Einzelheiten wissen und vielerlei verschiedene Ware anbieten.

Dives war eine sehr alte Stadt, aber Clopinet, der sich nicht für Altertümer interessierte, fand die Gegend hässlich, dabei war sie von der Landseite her recht hübsch: er schaute sie aber nur von der Seeseite aus an und langweilte sich beim Anblick der flachen Sandküste. Da sah er im engen Fahrwasser, das nun den großen Hafen ersetzte, von dem aus früher einmal die Flotte von Wilhelm dem Eroberer nach England in See gestochen war, große Schiffe liegen, die immer noch ein wenig Handel mit Honfleur trieben und sein Verlangen, wenigstens bis dahin zu gelangen, war so groß, dass er fast seine Besorgung darüber vergessen wollte. Aber er widerstand und erkundigte sich nach dem Haus des Apothekers. Dort dann, während sein Medikament bereitet wurde, hätte er fast vergessen, dass er es ja heimbringen musste. Der Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit dort völlig in Anspruch nahm und ihn in unbeschreibliches Entzücken versetzte, war ein Kampfhahn, auch Meerpfau genannt, der auf einem Stab unbeweglich im Fenster stand. Der Apotheker amüsierte sich über sein Erstaunen, nahm den Vogel, der wie lebendig aussah, und er durfte ihn berühren. Er war ausgestopft. Clopinet hatte noch nie ein derartiges Kunstgebilde gesehen und ließ es sich erklären. Dann fragte er plötzlich mit einer Lebhaftigkeit und Entschiedenheit, die von Seiten eines doch offensichtlich einfachen Knaben den Apotheker erstaunte, ob er von ihm das Präparieren und Ausstopfen lernen könne.

«Na ja!», antwortete der Apotheker, «wenn du mir dabei helfen willst, gern, falls du genauso geschickt wie entschlossen bist.» Er erzählte Clopinet, dass der Ortspfarrer und der Schlossherr große Liebhaber der Ornithologie waren, so nannte der Apotheker das Wissen von den Vögeln, ihre Einteilung in Familien, Gattungen und Arten. Diese beiden Personen verschafften sich so gut sie konnten Vögel, der Gutsherr zu jedem Preis, der Pfarrer zu dem, den er dafür aufbringen konnte. Die Gegend war reich an Wasser- und Ufervögeln, wegen der großen Sandflächen am Strand und wegen der Sümpfe, die von der Dive gebildet wurden. Die Jäger lauerten dort dem Wild auf und brachten es ins Schloss, wo der Herr sie in seine Sammlung von ausgestopften Tieren aufnahm. Er, der Apotheker, war mit dem Präparieren beauftragt, und er verstand sich ganz gut darauf. Aber er hatte keinerlei Hilfe, und es fehlte ihm an Zeit. Falls er einen gewissenhaften gelehrigen Schüler finden sollte, würde er ihn gut bezahlen, sobald der sein Handwerk verstünde.

«Nehmen Sie mich», sagte Clopinet, «ich werde es bestimmt schnell und gut erlernen. Wenn es Sie nicht kränkt, dann möchte ich Ihnen sogar sagen, dass ich die Vögel besser kenne als Sie. Dieses Tier da, das Sie Meerpfau nennen und von dem ich den Namen nicht wusste, das habe ich hundertmal in Freiheit gesehen, und ich kenne seine Art und sein Verhalten. Sie wollten ihm die Haltung geben, die es beim Kampf einnimmt: aber sie stimmt nicht, und wenn man das Ding hier formen könnte, dann würde ich Ihnen zeigen, wie er in Wirklichkeit dasteht.»

Der Apotheker war ein kluger Mann, was bedeutet, dass er schnell die Klugheit anderer Menschen begriff. Er ärgerte sich nicht über Clopinets Kritik und sagte: «Na gut, probiers; man kann das Ding formen, wie du sagst, das heißt, man kann die Bewegung des Vogels ändern, indem man die Drähte biegt, die er an Stelle von Knochen und Muskeln hat. Probiers doch. Wenn du ihn verdirbst, seis drum! Ein Meerpfau ist nicht so selten.» Clopinet zögerte einen Moment, wurde blass, zitterte ein wenig und versuchte sich in Gedanken genau zu erinnern; dann ergriff er den Vogel plötzlich vorsichtig, aber entschlossen und verlieh ihm eine so echte Haltung und ein so stolzes Aussehen, ohne die kleinste Feder zu beschädigen, dass der Apotheker bass erstaunt war. «Ich gebe zu, dass deine Haltung natürlicher ist als die meine. Meine war jedoch energischer.»

«Gefällt es Ihnen, mein Herr?», fragte Clopinet.

«Will sagen, meiner sah böser aus. Diese Vögel da sind böse Tiere!»

«Und genau da täuschen Sie sich», sagte Clopinet mit Überzeugung. «Diese Vögel sind nur böse, wenn der Hunger sie zum Kampf treibt. Die kämpfen nicht, um sich weh zu tun, das kommt kaum einmal vor. Ihr Kampf ist ein Spiel, das sie aus Stolz betreiben, wenn sie beobachtet werden, und das geht so zu: alle Männchen gehen auf eine Seite und alle Weibchen mit den Jungen auf die andere. Sie suchen sich Sandhaufen, auf denen sie sich aufstellen, die Weibchen schauen ihnen von einem anderen Haufen aus zu. Dann sagen die Alten zu den Jungen: Los, Kinder, zeigt uns, wie ihr kämpfen könnt. Und dann kommen zwei Junge, die so lange aufeinander einhauen, bis sie vor Müdigkeit umfallen, und dann sind die nächsten zwei dran. Manchmal schlagen sich zwei Paare gleichzeitig, aber immer nur einer gegen einen, nie eine Bande gegen eine andere, und nie wegen der Weibchen oder der Nahrung. Wenn die Lustbarkeit zu Ende ist, gehen sie als gute Freunde spazieren oder essen miteinander.»

«Schon möglich», sagte der Apotheker lachend. «Wenn du die Vögel so gut beobachtet hast, dann weißt du viel mehr als ich, und ich erkenne an, dass mir der Kampfhahn nun besser gefällt, so wie er jetzt dasteht und sich reckt. Ich denke, du bist ein geborener Beobachter und vielleicht sogar ein Künstler.»

Clopinet verstand das nicht, aber sein Herz klopfte vor Freude, als der Apotheker sagte: «Komm morgen wieder, ich zeige dir das Handwerk, es ist ganz einfach, und da du Spürsinn und Gefühl hast, was eine Gabe der Natur ist, werde ich dich beim Schlossherrn einführen, damit du da als Präparator arbeiten kannst. Du wirst die Naturgeschichte der Vögel erlernen, und eines Tages wirst du bei ihm oder bei einem anderen der Konservator einer Sammlung werden. Vielleicht bist du ja zum Gelehrten geboren.»

Clopinet verstand nur eines, nämlich, dass er neue Vögel, die er noch nicht kannte, sehen würde, und dass er die Namen und Länder derer lernen würde, von denen er das Aussehen, den Gesang, das Federkleid und die Gewohnheiten kannte. Er flog mehr als er lief zu seinem Vater und erhielt leicht die Erlaubnis, in Vögeln zu arbeiten.

«Da es seine Idee ist», sagte Vater Liebig lächelnd zu seiner Frau, «und der Apotheker ein ehrenwerter Mann, denke ich, Mutter Lieb, es wird Euch nicht verdrießen, wenn Ihr Euer Kind in einer Gegend wisst, die nicht weit weg ist, und wo wir es oft besuchen können?»

Mutter Lieb wäre es am liebsten gewesen, dass ihr Kind überhaupt nicht weggeht. Aber da ihr Mann mit ihr geredet und sie dabei sogar mit einem Lächeln beehrt hatte, konnte sie nur zustimmen, und zwar übers ganze Gesicht lachend, und das wollte etwas heißen. Sie zitterte immer noch bei dem Gedanken, Clopinet könnte nach Schottland zurückgehen, das nach ihrem Glauben am Ende der Welt lag und wo Clopinet doch niemals war.

Nach einem Monat konnte Clopinet bestens die Arseniklösung zubereiten, in der Vögel vor Verwesung und Motten aufbewahrt werden. Er verstand es, die Tiere mit äußerster Sorgfalt zu häuten, wobei er die Haut des Vogels abstreifte wie man einen Handschuh abstreift, ohne eine einzige Feder zu beschmutzen oder zu knicken. Er wusste, welche der Knöchelchen man brauchte, um die Drähte an ihnen festzumachen und welche man abschneiden musste, er wusste, wie man das Knochengerüst des Tieres durch mehr oder weniger dicke Drähten ersetzte. Er verstand, aus seinem Vorrat an Glasaugen die herauszusuchen, die genau zu dem jeweiligen Federvieh passten. Er konnte es so mit Werg ausstopfen, dass seine genaue Gestalt erhalten blieb, ihm den Bauch so geschickt zunähen, dass man die Naht nicht einmal ahnte, es auf seine Füße stellen, ihm die Flügel anlegen oder öffnen, wie es passte. Und was die Anmut oder Einzigartigkeit der natürlichen Pose betraf, so war er darin Meister vom ersten Tag an.

Der Apotheker, der am liebsten nur seine Arzneimittel verkaufen und sein Labor mit den Ausstopfsachen loswerden wollte, dachte bald daran, Clopinet zum Herrn Baron von Platecôte zu bringen, dem Herrn, der in die Vogelkunde verliebt war; das Kind sollte dort arbeiten können, ehe noch der Pfarrer von seinem Talent erfuhr, denn der Pfarrer tauschte zwar seine Forschungen und Objekte mit dem Baron aus, war aber ein bisschen eifersüchtig auf ihn und hätte versucht, Clopinet für sich in Beschlag zu nehmen.

Der Apotheker war so ehrenwert wie klug und nahm Anteil an Clopinet, dessen Sanftheit und Vernunft ungewöhnlich waren. Er brachte ihn also ins Schloss zum Baron, und stellte ihn als fähigen, verständigen und arbeitsamen Knaben vor.

«Daran zweifle ich nicht», antwortete der Baron höflich, «aber es ist ein Kind. Er ist sehr sauber und höflich, aber doch ein kleiner unwissender Bauer.»

«Der Herr Baron, der alles weiß», warf der Apotheker liebenswürdig ein, «wird ihm beibringen, was er für richtig hält. Der Herr Baron hat kein Kind und könnte sich um dieses hier kümmern, das ihm ein guter und treuer Diener sein wird. Ich empfehle dem Herrn Baron dringend, seine Hand sofort über dieses Kind zu halten, denn der Herr Pfarrer wird ihn sich nicht entgehen lassen, wenn er erst einmal die Präparate gesehen hat, die er machen kann.»

Unter diesen Worten öffnete der Apotheker die mitgebrachten Schachtel und stellte drei verschiedene Vögel auf den Tisch, einem jeden hatte Clopinet die genau zu ihm passende Physiognomie zu geben gewusst, so dass der Baron, der sich auskannte, Rufe des Erstaunens und der Bewunderung ausstieß. «Ich sehe genau, lieber Herr Apotheker, dass nicht Ihr diese vorzügliche Arbeit gemacht habt. Könnt Ihr schwören, dass das alles von diesem kleinen Kind hier stammt?»

«Ich schwöre es, Herr Baron.»

«Von ihm ganz allein?»

«Von ihm ganz allein.»

«Also gut. Ich nehme ihn. Überlasst ihn mir, er soll nicht bereuen, in meinen Diensten zu sein.»

VIII

Noch am selben Tag wurde Clopinet im Herrenhaus von Platecôte ganz oben in einem Dachzimmerchen untergebracht. Ehe er sich noch das Zimmer, das recht hübsch war, anschaute, streckte er den Kopf aus dem Fenster und machte sich mit der Gegend vertraut. Sie war wunderschön, denn das Schloss lag auf einer Anhöhe, von der aus man auf einer Seite das Auge-Tal, den Lauf von Dive und Orne sehen konnte mit ihren Wäldern und sanft gewellten Wiesen, auf der anderen Seite in großer Entfernung das Meer und die Küste. Clopinet erkannte sofort die Zacken des großen Steilfelsen. Noch besser sah er sie, als er sie durch ein Fernglas betrachtete, das auf dem Aussichtsturm des Schlosses angebracht war, der noch höher lag als sein Zimmer. Mit Entzücken konnte er die Schwarzen Kühe erkennen, die ihre Rücken über den Wellen zeigten und auf der Landseite das Haus seiner Eltern, wo der Kamin durch die gelben Blätter der Apfelbäume hervorlugte. Er war wie trunken vor Freude, dass er hier oben in luftiger Höhe sein konnte und zusätzlich zu seinem scharfen Auge noch über dieses Fernglas verfügte, das ihm ein Sehvermögen genauso stark wie das der Vögel verlieh. Alle Krümmungen und Vertiefungen erkannte er, alle Weiler und Dörfer an der Küste. Er fand Trouville wieder und entdeckte das Kap, hinter dem sich Honfleur verbarg.

Eine weitere Freude war, dass er sich vom nächsten Tag an in dem Raum einrichten konnte, der ihm als Labor angewiesen wurde; er hatte dort schon seine Phiolen, das Material und Werkzeug hingebracht, das der Apotheker zu seinem Gebrauch geschickt hatte. Von diesem Zimmer aus kam man direkt in das Museum des Herrn Baron, und da sah Clopinet in großen Glasschränken eine Menge von fremden und heimischen mehr oder weniger kostbaren Vögeln, die für ihn alle sehr interessant waren, da er ja ihre Namen und ihre Ordnungen nach Gruppen erlernen wollte.

Der Baron kam zu ihm und erklärte, mit welcher Art von Arbeit er ihn betrauen wollte. Clopinet in seiner Herzenseinfalt sagte vertrauensvoll: Lieber Herr, Ihr Vogelvorrat ist schlecht geordnet. Da hier ist ein kleiner, den man hierher gestellt hat, weil er klein ist; aber das passt überhaupt nicht. Er muss an die Seite der großen hier, denn er gehört zu ihrer Familie, dafür bürge ich. Er hat ihren Schnabel, ihre Füße, und er ernährt sich wie sie, ich weiß es, ich kenne ihn, und wenn es nicht haargenau der gleiche ist, dann ist es ein ähnlicher, dann muss es ein Vetter oder Neffe sein.»

Der Baron ließ Clopinet reden, der eigentlich überhaupt kein Plappermaul war, der aber, was Vögel betrifft, immer viel zu sagen hatte. Der Baron bewunderte seine Urteilskraft und die Sicherheit seiner Beobachtungen, was genauso auf sein Gedächtnis zutraf, denn eines morgens kannte er alle Namen, die der Baron ihm beibringen wollte, und er sagte sie ohne einen einzigen Fehler auf. Aber plötzlich sah er, dass der Baron gähnte, eine starke Prise Schnupftabak nahm und sich langweilte, den Lehrer für einen Unwissenden zu machen. Da sagte er: «Mein lieber Herr, es ist noch zu früh für mich, in Eure Dienste zu treten, Sie haben kein Vergnügen daran, mich zu unterrichten. Ich muss in die Lage kommen, mich selbst unterrichten zu können, und dazu muss ich das Lesen lernen. Lassen Sie mich zum Herrn Pfarrer gehen, Geduld gehört zu seinem Beruf. Sobald ich es kann, komme ich wieder zu Euch.»

«O nein, o nein!», sagte der Baron, du gehst mir nicht zum Pfarrer. Mein Kammerdiener ist gebildet genug, der wird dich unterrichten.»

Der Kammerdiener konnte fließend lesen, hatte eine schöne Schrift und konnte gut genug französisch, um nach dem Diktat des Herrn Baron einen einigermaßen richtigen Brief zu schreiben; der Baron war ein gelehrter Schöngeist, aber aus zu gutem Hause, als dass er die Orthographie beherrscht hätte. Das war damals in den höheren Stände nicht in Mode. Monsieur de La Fleur, so hieß der Kammerdiener, machte also naserümpfend und wenig geduldig den Lehrer für den Bauernjungen. Mit den meisten Kindern muss man Geduld haben, aber jemand, der wie Clopinet mit Leidenschaft bei der Arbeit ist und der sich keine Gelegenheit zum Lernen entgehen lassen will, ist auch mit einem gleichgültigen oder reizbaren Lehrer einverstanden. Clopinet strengte sich mit großem Willen an, um den mittelmäßigen Willen von Herrn de La Fleur nicht ermatten zu lassen, und nach einem Jahr konnte er genauso gut lesen, schreiben und rechnen wie er.

Das genügte ihm nicht. Die wissenschaftlichen Namen der Vögel sind lateinisch und viele Werke der Naturwissenschaft sind lateinisch geschrieben. Clopinet hatte sonntags frei und ging da zum Pfarrer zum Vogelausstopfen unter der Bedingung, dass dieser ihm während der Arbeit Latein beibrachte. Ein Jahr danach hatte er soviel an Neulatein gelernt wie er brauchen konnte.

Während er sich auf diese Weise fortbildete, stopfte er alle die Tiere aus, die ihm von den Zulieferern oder Korrespondenten des Barons geschickt oder gebracht wurden, aus der Umgebung oder aus der Ferne. Er reparierte oder erneuerte diejenigen aus der Sammlung, die schlecht präpariert oder verdorben waren. Er machte sich auch daran, die Anordnung der Tiere zu verbessern, manchmal allerdings nach heftigen Diskussionen mit seinem Herrn, denn dieser glaubte bestens Bescheid zu wissen und gestand nicht gerne ein, sich vielleicht getäuscht zu haben. Aber Clopinet gelang es mit seiner festen Überzeugung, seiner Geradlinigkeit und Natürlichkeit immer, ihn zu überzeugen. Dann zuckte der Baron, der nicht dumm war, mit den Schultern, tat so, als ob es ihm gleichgültig sei oder er nachgeben wolle, und sagte: «Tu, wie du willst. Für eine solche Kleinigkeit werde ich weder dich noch mich ärgern.» Es handelte sich jedoch keineswegs um eine Kleinigkeit. Dem Pfarrer, der nicht so viele Präparate hatte, war es wichtig, gelehrter und klüger als der Baron zu sein, er schätzte Clopinet sehr und erklärte, wenn erst Herr Buffon[3] ihn kennenlernte, dann wäre sein Weg gemacht.

Clopinet machte das nicht besonders stolz. Er wusste wohl, welche Hochachtung man Herrn de Buffon schuldig war, dessen prächtiges Werk er mit Eifer las, aber ihn interessierte nun einmal nichts in der Welt so sehr wie die Natur. Geld war ihm unwichtig, ebenso der Ruhm. Er träumte weiterhin nur von Reisen, von Entdeckungen und Beobachtungen, die er ganz allein unternahm.

Auch dachte er ständig an seine Einsiedelei in den Steinfelsen, und je mehr er das bequeme und angenehme Leben im Schloss kennen lernte, umso mehr bekam er Sehnsucht nach seinem Felsenbett, seinen Wildblumen, dem Gesang der Vögel in Freiheit, und vor allem ihrem Vertrauen zu ihm, das er ihnen einzuflößen vermocht hatte. Die Erinnerung an diese wunderliche Vertrautheit machte ihm manchmal das Herz schwer. «Wo sind jetzt alle die kleinen Weggefährten meiner Einsamkeit?», sagte er sich. «Wo sind meine Sumpfläufer, die so gut das Meckern der Ziegen und das Bellen der Hunde nachmachen konnten? Wo ist die große einsame Rohrdommel, die muhte wie ein Stier? Wo sind die hübschen schelmischen Kiebitze, die mir mit der Stimme des Schneiders in die Ohren geschrieen haben: kiwitt kiwitt [disswitt, disswitt?][4] Wo sind die Brachvögel, deren leise Kinderstimmchen mich in dunklen Nächten gerufen haben und mir Zauberflügel wachsen ließen, Flügel des Mutes?»

Wie man sieht, glaubte Clopinet nicht mehr an Nachtgeister. Das machte ihn aber nicht unbedingt froh. Er sehnte sich nach der Zeit, wo er noch die Worte seiner kleinen Freunde am schwarzen Himmel und den Gewitterwind zu verstehen meinte. Das Milieu, in das er nun versetzt war, hatte keine Wunder für ihn bereit. Zu dieser Zeit hielt sich jeder für einen Philosophen, selbst der Pfarrer, und ganz besonders Monsieur de La Fleur, der viel von Monsieur de Voltaire sprach, ohne ihn gelesen zu haben und der jeden bäuerlichen Aberglauben höchlich verachtete.

Als Clopinet im Dienst des Barons das Alter von fünfzehn, sechzehn Jahren erreicht hatte, fand er, dass er in Bezug auf die Vogelkunde alles, was er im Schloss und in der Umgebung lernen könne, erschöpfend gelernt hatte, und er wurde von dem unbezwingbaren Verlangen ergriffen, die Geheimnisse in der Natur selbst zu erfahren, die man nicht immer in Büchern finden kann. Er fühlte sich krank, und alle bemerkten seine Blässe. Er dachte also ernsthaft daran, frei zu werden, und obwohl er mit seinem Meister zufrieden war und ihn gerne mochte, teilte er ihm mit, dass er entschlossen sei zu reisen und versprach ihm dabei, alles, was er an Interessantem finden würde, für sein Museum mitzubringen. Der Baron machte ihm Vorwürfe, dass er seinen Dienst und den Unterricht, den er ihm vermeintlich gegeben hatte, aufgeben wolle und warf ihm Undankbarkeit für seine Gunstbezeigungen vor. Um ihn bei sich zu behalten, bot er ihm das gleiche Gehalt an wie de La Fleur und machte ihm das Angebot, nicht mehr mit der Dienerschaft essen zu müssen. Clopinet fand sich gut genug bezahlt und fühlte sich keineswegs gedemütigt, mit der Dienerschaft zu essen. Er dankte und lehnte ab. – Der Baron sagte: «Vielleicht ärgerst du dich, die Livrée zu tragen? Du kannst dir mit meiner Erlaubnis ein schwarzes Gewand machen lassen, wie es der Apotheker trägt.» Clopinet lehnte wieder ab, er fand sich auch so schon bestens gekleidet. Da ärgerte sich der Baron, behandelte ihn als Undankbaren und Verrückten, drohte, sich nicht mehr um ihn zu kümmern und erklärte, dass er die kleine Rente, die er ihm in seinem Testament zugedacht hatte, streichen würde. Es nützte alles nichts. Clopinet küsste ihm die Hand und sagte, dass er ihn, auch enterbt, immer genauso lieben und ihm ergeben sein würde, aber dass er sterben müsste, wenn er wie in den drei letzten Jahren weiterhin eingesperrt leben würde, dass er wie ein Vogel sei und Raum und Freiheit brauche und sei es zum Preis allen Elends.

Als der Baron sah, dass er nichts ausrichten konnte, gab er nach und verabschiedete ihn mit Wohlwollen, zahlte ihm seinen Lohn aus und gab ihm zusätzlich ein schönes Geschenk. Clopinet wies das Geldgeschenk zurück und bat den Baron, ihm ein tragbares Fernglas und einiges Werkzeug zu schenken. Der Baron gab es ihm und nötigte ihn, auch das Geld zu behalten.

Als Clopinet sah, wie gütig er war, kam er sich in der Tat undankbar vor, warf sich ihm zu Füßen und verzichtete auf all seine Träume. Er bat um nur acht Tage Urlaub, schwor, dann wieder zu kommen und alles zu tun, um sich an das Leben im Schloss zu gewöhnen, das sein Beschützer ihm so angenehm machte. Gerührt küsste ihn der Baron und gab ihm alles, was er für eine achttägige Reise benötigte.

Eines schönen Frühlingsmorgens machte sich Clopinet allein auf den Weg zur großen Steilküste. Vorher hatte er noch einen Tag bei seinen Eltern verbracht. Er war bei der Arbeit, die ihm der Baron anvertraut hatte, so fleißig gewesen und so eifrig darauf bedacht, beim Pfarrer etwas zu lernen, dass er sich nie auch nur eine Stunde Spaziergang zu seinem Vergnügen erlaubt hatte. Er hatte folglich die Schwarzen Kühe nicht mehr wieder gesehen und war ungeduldig, sich aus der Nähe zu vergewissern, was das Meer während seiner Abwesenheit wohl alles an Verwüstungen angestellt hatte. Beim Baron und beim Apotheker war von beträchtlichen Erdrutschen die Rede gewesen. Aber von seinem Aussichtsturm aus hatte Clopinet festgestellt, dass die gezackten Gipfel der Steilküste immer noch dastanden, er glaubte nur die Hälfte von dem, was so erzählt wurde.

Er trug einen groben Bauernkittel, derbe Schuhe und Gamaschen aus festem Tuch, eine Wollmütze, der Windstöße nichts anhaben konnten und auf dem Rücken einen soliden Rucksack mit seinem Werkzeug, mit ein oder zwei Bänden von Katalogen, seinem Fernglas und einigen Lebensmitteln; bald war er wieder auf den Dünen, aber er konnte nicht den Strand entlang gehen, der an verschiedenen Stellen von Mergelabrutschen versperrt war. Je weiter er voran kam, wobei er in der Mitte ging, sah er, dass in den Erdspalten gewaltige Veränderungen stattgefunden hatten. Da, wo Pflanzen gewachsen waren, gab es nur noch Schlamm, durch den man mit Mühe weiterkam, ohne sich darin zu verirren. Da, wo weiche Stellen gewesen waren, war das Erdreich hart geworden und mit Vegetation bedeckt. Clopinet kannte sich nicht mehr aus. Seine alten Wege, die er selbst gebahnt hatte und die nur er kannte, waren verschwunden. Er musste alles neu erkunden, um weiter zu kommen und neu berechnen, um Spalten und Abgründe zu vermeiden. Endlich gelangte er zum großen Steilfelsen, der immer noch aufrecht dastand, aber seine nackten und senkrecht abgeschnittenen Flanken ließen das Hinaufsteigen zu seiner Einsiedelei nicht mehr zu.

IX

Schon wollte er aufgeben, aber er hatte sich so sehr auf sein Nest dort gefreut, dass er alles daransetzte und mit aller Macht nach neuen Zugängen suchte, und wirklich gelang es ihm, einen sehr schwierigen, aber nicht allzu gefährlichen Durchgang zu finden. Er wagte sich hinein und gelangte endlich zu den felsigen Stellen, wo er zu seiner höchsten Befriedigung seinen Garten, seine Galerie, seinen Ausguck und seine mehr oder weniger intakte Höhle vorfand. Sofort machte er sich an ihre Wiederherstellung: trockene Kräuter für sein Bett waren schnell geschnitten, gleich war es gerichtet. Nach gründlicher Säuberung, denn einige Vögel hatten ihre Spuren in seiner Bleibe hinterlassen, schnitt er mehrere Arme voll trockenes Schilfs und zündete ein Feuer an, um seine Höhle trocken zu machen. Er verbrannte sogar einige Wacholderkörner, damit sie schön duftete. Dann aß er sein frugales Mahl und streckte sich anschließend in seinem Garten im Gras aus, wo die Blumen, die er geliebt hatte, so schön wie nie zuvor blühten, und machte ein Schläfchen. Er war ja schon früh am Morgen aufgestanden und hatte sich sehr angestrengt beim Überwinden der völlig veränderten Dünen.

Sobald er ausgeschlafen hatte, wollte er den Aufstieg auf den großen Steilfelsen versuchen, er wollte wissen, ob er immer noch von den gleichen Vögeln bewohnt war. Unter tausend Mühen und Gefahren kam er schließlich hin, aber er fand keine Spur von Nestern mehr und konnte keine einzige Feder auflesen. Die Focken hatten den Platz verlassen. Das war ein Zeichen dafür, dass er einzustürzen drohte, ihr Instinkt hatte sie gewarnt. Wohin hatten sie sich in Sicherheit gebracht? Clopinet legte keinen Wert darauf, seinen kleinen Handel mit den Federbuschen wieder anzufangen, er hielt sich für reich genug, aber er hätte gerne seine alten Freunde wieder gesehen und erfahren, ob sie ihn wieder erkannten nach so langer Abwesenheit, das war aber sehr unwahrscheinlich.

Als er sich umsah, sah er einen großen Spalt, der sich an der Neigung des Felsens gebildet hatte; vorsichtig ging er hin. Es war wie eine neue Gasse, die sich in seine einsame Gegend eingegraben hatte. Sie führte ihn zu Felsblöcken weiter unten, und da befand er sich zu seinem großen Erstaunen neben seiner Einsiedelei, und sah, dass die Felsen ganz weiß gekalkt von der Hinterlassenschaft von Vögeln waren. Und schon entdeckte er massenhaft Nester, in denen die von der Sonne erwärmten Eier auf die Nacht warteten, um gebrütet zu werden; um sie herum wiesen viele Federn auf die Anwesenheit von Männchen hin. So waren die Nachtreiher also umgezogen, und dass ihre Wahl auf die Nachbarschaft der Höhle gefallen war, zeigte an, dass ihr Platz in den Falten der Steilküste noch solide war. Clopinet war sehr zufrieden über diese Entdeckung, ging auf einfachem Weg über eine kleine Geländefalte zu sich heim, und freute sich, dass er seine alten Freunde sozusagen zur Hand hatte.

Ohne Frage liebte Clopinet das Alleinsein, denn dieser Tag in der Einsamkeit war für ihn wie die Entschädigung für ein langes, tapfer ertragenes Exil. Er machte sich wieder an die Erkundung der Dünen, die länger geworden waren, und ihrer neuen Lage. Mit Freude sah er seine Schwarzen Kühe wieder, die immer noch mit Muscheln bedeckt waren. Mit Wonne badete er im Meer und wiederholte seine früheren Beobachtungen der Vögel, die dieses Ufer bewohnten oder sich zeitweise hier aufhielten. Er musste nichts neues mehr über sie lernen, nur waren es natürlich nicht mehr dieselben Individuen oder sie hatten kein Gedächtnis, denn sie schienen ihn nicht wieder zu erkennen und wollten nicht näher an das Brot herankommen, das er ihnen zeigte. Es war jedoch immer noch ein Leckerbissen für sie, denn sobald er ein wenig weiter weg gegangen war, stürzten sie sich auf die Brösel, die er ausgestreut hatte und stritten mit großem Gezeter darum. Er wurde nicht müde, sie von neuem zu zähmen in der kurzen Zeit, die er im Steilufer verbrachte, denn er wollte hier so lange wie möglich in seinem Urlaub bleiben, dabei wusste er gar nicht so genau, warum es ihm hier so gut gefiel.

Natürlich handelt man, wenn man jung ist, seinem Charakter entsprechend, ohne sich das klar zu machen. Clopinet war jedoch nicht mehr dasselbe Kind, das sechs Monate lang das Leben eines Wilden geführt hatte. Er war jetzt für seine Verhältnisse sehr gebildet, er wusste nun um das Warum der Dinge, die ihm vorher nur gefallen hatten. Er hatte das Meer, die Felsen, die Vögel, Blumen und Wolken geliebt ehe er wusste, warum dies alles schön war. Studium und Vergleich hatten ihn gelehrt, was das Schöne ist, das Schreckliche und die Anmut. Er genoss es also doppelt, und er hätte sich etwas darauf einbilden können, die Natur schon geliebt zu haben, ehe er sie verstand. Aber er war bescheiden, so wie alle die, die in Betrachtung und Bewunderung leben: bei der Natur bedankte er sich, dass sie sich ihm offenbart hatte ohne Zutun eines anderen Menschen.

Es war, als ob die mächtige Mutter Natur ihm ein Fest bereiten wollte, denn sie bot ihm das gleiche Schauspiel, das er am ersten Abend, als er sich in den Steilfelsen eingerichtet hatte, erlebt hatte: bei Sonnenuntergang ballten sich schwarze Wolken mit feuerroten Rändern zusammen und rundum phosphoreszierte das Meer. Als er sich in seine Höhle zurückgezogen hatte, kam Wind auf und das Fest artete ein bisschen aus. Wolkenbruchartiger Regen prasselte um die Einsiedelei hernieder, aber der liebenswürdige und gleichwohl kokette Mond versah das Blätterwerk, das den Eingang schmückte, mit grünen Diamanten. Clopinet schlief in dem ganzen Krach und freute sich, wenn er immer wieder einmal vom Donnergrollen geweckt wurde. Ein solcher Donnerschlag war jedoch so heftig, dass er die Erschütterung spürte und sich auf einmal, ohne zu wissen, wie ihm geschah, aufrecht neben seinem Bett fand. Tausend Klageschreie erfüllten die Luft über ihm, und einen Moment danach spürte er sich im wörtlichen Sinn von einer Menge großer Flügel gepeitscht, die lautlos in der Höhle um ihn herum flogen. Ihr Lagerplatz dicht nebenan war vom Blitz getroffen worden. Die Weibchen, außer sich, hatten ihre zerbrochenen Eier verlassen und waren, vom Wind getrieben, in Clopinets Garten hinuntergestürzt und wollten sich unter schrecklichem Jammergeschrei sogar in seiner Bleibe niederlassen. Er hatte großes Mitleid mit ihnen und achtete darauf, sie nicht zu vertreiben; er legte sich wieder hin und schlief inmitten der armen Vögel wieder ein, von denen einige halbtot auf seinem Bett lagen.

Sobald es Tag wurde, flog alles, was noch Flügel hatte, davon, aber einigen waren die Flügel gebrochen, einige hatten ein Auge verloren, andere waren tot oder lagen im Sterben. Clopinet versorgte so gut er konnte seine traurigen Gäste, dann schaute er sich das Unheil in der Vogelkolonie an. Er wurde Zeuge der Schreie und Klagen der Glucken, die vergeblich ihre Eier suchten, er versuchte, einige Nester zu reparieren. Aber der elektrische Strom hatte verbrannt, was nicht zerbrochen war, und die Kolonie, die sah, dass es keine Hoffnung mehr gab, rief sich zusammen unter Angstgeschrei, versammelte sich auf einem Felsen, wo sie Rat zu halten schien, dann flog sie unter Abschiedsschluchzern zum Meer und verschwand im Dunst, man konnte nicht sehen, was aus ihr wurde.

Als sie weder am nächsten Tag noch in den kommenden Tagen zurückkam, dachte Clopinet, dass sie dieser unwirtlichen Küste vielleicht für immer ade gesagt hatte. Er ging zu seinen Kranken zurück, in kurzer Zeit waren sie zahm, fraßen ihm aus der Hand, ließen sich berühren, kraulen und wärmen, dann liefen sie um ihn herum und ließen sich nieder, die einen in der Höhle zum Schlafen, die anderen im Garten, um sich in der Sonne zu erholen. Und seltsam, sie schienen das Unglück ihrer Nachkommenschaft vergessen zu haben, sie machten keinen Versuch nachzuschauen, was aus ihr geworden war, mit leisen traurigen, heiseren Schreien antworteten sie auf den lauten Ruf derer, die wegflogen, sie fanden sich damit ab, in Zahmheit zu leben wie mit einer neuen Existenz, gegen die man nicht ankämpfen konnte.

Er hatte nun sogar die Gelegenheit, eine Sache zu studieren, die ihn schon immer sehr interessiert hatte, nämlich den Grad der Intelligenz, der sich bei Tieren entwickelt, wenn der Instinkt nicht mehr zu ihrer Erhaltung genügt. Er verbrachte den Tag damit, die mehr oder weniger verkrüppelten Genesenden zu beobachten, die sich ihm anvertrauten, oder die gefiederten Gäste anderer Arten aufzulesen, die er auf seinen Wegen überall auf dem Steilufer liegend vorfand. Der Sturm hatte ihm welche gebracht, die er noch nie aus der Nähe gesehen hatte, Löffelreiher, Kormorane und Zwergdommeln. Am Abend war seine Höhle voll mit ihnen, er musste ihnen den Rest seines Brotes geben und selbst ohne Abendbrot zu Bett gehen.

Am nächsten Morgen rannte er zum Frühstücken nach Auberville, in das Dorf, in dem er früher seine Einkäufe gemacht hatte, und stattete sich mit all dem aus, was er für seine Krankenstube brauchte. Im Tagesverlauf gab es Todesfälle und Genesungen. Er suchte noch die Verletzten oben auf den Höhen zusammen, und er konnte freie gesunde Individuen sehen, die ihm auflauerten und die Brösel, die er zurückließ, auflasen. Wenige Tage genügten und sie waren so zutraulich wie früher. Clopinet glaubte in denen, die am schnellsten zahm wurden, die wieder zu erkennen, die er schon einmal gezähmt hatte.

Aber immer fiel ihm ein großer Unterschied in den Charakteren der Vögel auf; manche blieben, obwohl sie sich daran gewöhnten, sich ihm zu nähern, unabhängig, andere hatten sich wegen ihrer Verwundung oder der durch den Blitz verursachten Ohnmacht in seine Abhängigkeit begeben. Diese wurden so zutraulich, dass es fast lästig war. Die Unfähigkeit zum Fliegen oder schnellen Laufen entwickelte in ihnen ein Gefühl von Egoismus und unersättlicher Gefräßigkeit, während die ersteren aktiv und stolz blieben. Clopinet kümmerte sich hauptsächlich um diese, und wenn er auch diejenigen, die ihn am dringendsten brauchten, besonders pflegte, so konnte er sich doch einer gewissen Verachtung für ihre schnelle Selbstverleugnung nicht enthalten.

Aus Mitleid blieb er jedoch bei ihnen, er hoffte, sie alle wieder in den Stand ihres freien Lebens zurück zu versetzen. Da er ja geübt darin war, ihr Knochengerüst zu rekonstruieren, kannte er ihre Anatomie ganz genau, und es gelang ihm mit großer Geschicklichkeit, ihre gebrochenen Füße und Flügel wieder zu richten. Aber diejenigen, die wieder zusammengeflickt waren und nach wenigen Tagen ihr Leben wieder selbstständig führen konnten, wurden von den frei gebliebenen so übel empfangen, dass sie ganz kleinlaut wieder zurückkamen und Schutz bei Clopinet suchten, und er musste energisch die Beleidiger zurückdrängen und schimpfen, die sie rupfen oder zerhacken wollten. Ihr könnt euch sicherlich selber denken, dass er bei diesen merkwürdigen Kämpfen, an denen er teilnehmen musste, mit Interesse alle die Verhaltensweisen dieser gefiederten Persönlichkeiten beobachtet hat.

Am Ende der Woche dachte Clopinet schließlich daran, die Steilküste zu verlassen und zu seinem Herrn zurückzukehren. Es war auch höchste Zeit, an den Rückzug zu denken, denn die Küste war vom letzten Gewitter schwer beschädigt worden. Nahe bei dem vom Blitz getroffenen Fockennest hatte sich ein neuer Spalt gebildet, und der vom Regen verwässerte Mergel floss schon in Clopinets Garten herunter. Das machte ihm Kummer, denn diese kleine Mulde war mit guter Komposterde gefüllt, und früher hatte er mit Freude darin die hübschen Pflanzen aus der Umgebung kultiviert, Ginster, wunderbaren Natternkopf, leuchtend gelbes Strandtausendgüldenkraut, köstliche Strandnelken von reinem Lila und elegantem Wuchs, und die hübschen Meerwinden mit dunkelrosa-weiß gestreifter Blütenkrone, dicken glänzenden Blättern, die ihre grazilen Blumengirlanden bis in den von der Flut feuchten Sand ausbreiten.

In Clopinets Abwesenheit war alles gewuchert und hatte sich bis zur Schwelle seiner Höhle ausgebreitet, und all das sollte nun für immer unter der erbarmungslosen Flut des schweren, festen Mergel verschwinden, der selbst unfruchtbar war und unfruchtbar macht, falls er nicht mit anderen Erden gut vermischt wird. In kurzer Zeit und vielleicht sehr schnell, unter dem Einfluss äußerer Kräfte wie Regen oder Blitz, würde er den ganzen Garten und die Höhle ausfüllen. Da Clopinet sehr gut aufpasste und daran gewohnt war, den Stand des rutschenden Mergels zu überwachen, fürchtete er nicht, plötzlich überrascht zu werden. Trotzdem schlief er, wie man so sagt, nur auf einem Auge, und zählte die Tage: noch ein schöner Tag, der den ganzen Schlamm trocknet, wenn es aber morgen regnet, muss ich vielleicht schnell wegziehen und das Ende meiner kleinen Welt mit ansehen.

In dieser Wartezeit entschloss er sich, die Vögel, die er retten wollte, zum Pfarrer von Dives zu bringen, er wusste, dass der gern lebende Tiere zum Aufbewahren bekam, während der Baron von Platecôte sie lieber tot oder ausgestopft hatte. Der Pfarrer war mehr Naturforscher, der Baron mehr Sammler. Clopinet war sich sicher, dass der Pfarrer gut für sein Federvieh sorgen würde, er schnitt Reisig unten auf dem Land und flocht einen ziemlich großen Korb, in dem er seine Welt tragen konnte ohne dass sie erstickte. Aber er dachte sich, dass das für einen allein zu schwer würde, denn es waren sehr große Vögel darunter, und so lieh er sich einen Esel, den er bis zum Eingang seines Gartens hochklettern ließ; er war bereit, sich am nächsten Tag mit ihm auf den Weg zu machen.

X

Die Nacht war schlimm und der Mergel gewann viel an Land. Clopinet musste vor Tagesanbruch aufstehen. Er sammelte alle seine Tierchen ein, gab ihnen zu essen, legte sie sorgfältig in den mit Gras gepolsterten Korb, lud ihn auf den Sattel des Esels, dem er auch reichlich zu fressen gab und führte ihn das Steilufer hinunter bis ans Meer, wobei er ihm so gut er konnte zu Hilfe kam. Er hatte die Zeit so berechnet, dass er dann dort war, wenn die Flut anfing, sich zurückzuziehen und er so auf dem Strand nach Dives gelangen konnte. Als aber der Esel das Meer so nahe hörte – es war noch zu dunkel, er konnte es noch nicht sehen – wurde er von solcher Furcht ergriffen, dass er am ganzen Leib zitternd mit angelegten Ohren stehen blieb, und weder vor noch zurück wollte. Clopinet war sehr geduldig, statt ihn zu schlagen, streichelte er ihn, er wollte ihm Zeit lassen, sich an das Wellenrauschen zu gewöhnen.

Zur gleichen Zeit glaubte er auf der großen Schwarzen Kuh, die immer noch mit dem Rücken aus den Wogen ragte, etwas höchst merkwürdiges zu sehen. Es war noch nicht hell genug, um es erkennen zu können. Es war etwas wie ein kleiner Körper mit langen Füßen, die sich bewegten. Clopinet dachte an eine Riesenkrake, und die Neugierde, ein so außergewöhnliches Tier zu sehen, veranlasste ihn dazu, den Esel zurückzulassen und hin zu gehen. Das Ding bewegte sich immer noch, einmal der eine Fuß, dann der andere, der Körper schien auf dem Felsen zu kleben. Clopinet fürchtete, dass dieses unbegreifliche Tier herunterfallen könnte, ehe er es genau sehen und bestimmen konnte. Schnell zog er sich aus, warf seine Kleider auf den Esel, der sich nicht bewegte, und stieg ins Meer. Der Seegang war jedoch sehr stark, so dass er nur vorwärts kommen konnte, wenn er sich an die verstreuten und überfluteten Felsen klammerte, die er bestens kannte. Endlich kam er nahe genug heran und konnte sehen, dass die Krake ein oben an die Dicke Kuh geklammerter Mensch war, der unmissverständliche Zeichen der Verzweiflung von sich gab. Aber welch eigentümlicher Mensch! Er war von so hässlicher Gestalt, dass Clopinet trotz seiner Aufregung an den Schneider denken musste, den Schrecken seiner Kindheit. Niemand sonst konnte so hässlich sein wie dieses ungestalte Wesen, von dem er den dicken Kopf und die langen mageren Glieder durch die nassen, am Körper klebenden Kleider hindurch wahrnehmen konnte. Er schwamm zu ihm hin und glaubte eine Stimme zu hören, die ihm zurief: hierher! her zu mir! Clopinet erreichte den letzten, sich vor der Dicken Kuh erhebenden Felsen, der bereits unter Wasser stand. Es war nur noch eine sehr kurze Entfernung zum Schiffbrüchigen, und da es nun hell wurde, konnte er sich vergewissern, dass es tatsächlich der elende Bucklige war, an den er sich mit Abscheu und Abneigung erinnerte, obwohl er ihn schon drei Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Er rief ihm zu: «Nicht bewegen! Wartet auf mich!»

Umsonst. Entweder hatte ihn Linkerhand nicht gehört oder die sich zurückziehende Flut riss ihn gegen seinen Willen mit, er machte einen letzten angestrengten Versuch, seine langen Arme nach Clopinet auszustrecken und ließ los. Im Nu wurde er von der Woge erfasst, die den Fels umspülte und verschwand. Clopinet, der zum Atemholen noch auf dem Felsen stand, war einen Moment unentschlossen und wie erstarrt vor Todesangst. In solchen Momenten denkt man schnell. Ihm war klar, dass sich der Schneider, außer sich, an ihn klammern würde, wenn er ihm zu Hilfe käme, ihn wie ein echter Tintenfisch umschlingen, am Schwimmen hindern und mit in die Tiefe ziehen würde. Auf diese Weise einen plötzlichen schrecklichen Tod zu sterben, wenn man so jung, so neugierig aufs Leben ist, um ein so tückisches, böses und hässliches Wesen wie den Schneider vergeblich retten zu wollen, das wäre Wahnsinn. Clopinet zögerte einen Moment, einen kurzen Moment, denn in seinen Ohren entstand ein melodiöser Klang, den er sofort erkannte: es war der nachdrückliche und sanfte Gesang seiner kleinen Freunde, der geflügelten Meergeister, und die schmeichelnden Stimmen sagten ihm: Deine Flügel! Öffne deine Flügel! Wir sind da!

Clopinet spürte, wie sich seine Flügel des Mutes weit öffneten, weit wie die eines Seeadlers, und er sprang in die wütende Flut. Er wusste nie, wie es ihm gelungen war, den Schneider inmitten des Schaums, der ihm die Sicht nahm, packen und mit ihm kämpfen konnte, wie er mit übernatürlicher Kraft die Riesenwoge, die ihn ins offene Meer hinaus riss, bezwingen und schließlich zur Dicken Kuh zurückkehren konnte, wo er völlig erschöpft auf den Körper des ohnmächtigen Schiffbrüchigen sank. Das alles geschah wie in einem Traum. Aber in diesem Moment hätte kein Mensch Clopinet, trotz all seines inzwischen erworbenen Wissens, davon überzeugen können, dass sich nicht auch diesmal wieder die guten Geister, die ihm früher schon beigestanden waren, eingemischt hatten. Schnell erhob er sich und rief ihnen zu: «Danke, danke, meine Lieben!» – Er drehte den Schneider auf den Bauch und legte ihn mit dem Kopf nach unten hin, damit das Wasser, das er geschluckt hatte, herauslaufen konnte. Er rieb ihn mit aller Kraft so lange ab, bis er merkte, dass er wieder zu atmen anfing. Nach fünf Minuten kam Linkerhand wieder ganz zu sich, er wollte sprechen, stieß aber wegen eines letzten Erstickungsanfalls, den er noch bekämpfen musste, nur Schreie aus. Er wollte sich ins Wasser werfen, um schneller an Land zu kommen. Er war wie verrückt. Clopinet gelang es, ihn zurückzuhalten, indem er ihn mit flacher Hand schlug, das verhalf zu seiner endgültigen Wiederbelebung.

«Habt Vertrauen», sagte Clopinet, nachdem er ihm etwas klar machen konnte: «In einem Augenblick wird dieser Felsen hier ganz frei sein, und wir können trockenen Fußes zum Strand gehen. Es ist mir gelungen, euch ein bisschen aufzuwärmen, wenn ihr jetzt wieder kalt werdet, sterbt ihr.»

Linkerhand gab nach, und nach einer Viertelstunde war er am Ufer und wurde völlig trocken, dabei aß er Clopinets Brot, sie saßen vor einem schönen Feuer aus trockenem Gras, das das brave Kind oben auf einer Düne, zu der die Flut nicht gestiegen war, angezündet hatte.

Nun konnte der Schneider Clopinet erzählen, wie er, trotz seines Abscheus vor dem Meer, von ihm überrascht und hinweg getragen wurde. «Ich muss dir eine Sache gestehen», sagte er. «Ich lebe schlecht von meinem Beruf, und von dem Tage an, als ich dich mit den drei Reiherfedern geschmückt sah, hatte ich keinen anderen Ehrgeiz, als das Versteck dieser wertvollen Vögel zu finden. Ich sah wohl welche über und um diese vermaledeite Steilküste fliegen, aber ich traute mich nicht hin. Obwohl ich mit Leichtigkeit gehe und klettere, so hat mir Gott doch keinen Mut gegeben, weder traute ich mich allein hin, noch traute ich mich, wie du, mit dem Teufel einzulassen.»

«Herr Schneider», sagte Clopinet und reichte ihm seine Feldflasche, «trinkt einen Schluck. Ihr müsst eure Gedanken in Ordnung bringen, denn Ihr seid ein Dummkopf, wenn ihr an den Teufel glaubt, und wenn ihr behauptet, ich hätte mich mit ihm eingelassen, dann erkläre ich – ohne euch beleidigen zu wollen – dass Ihr lügt wie gedruckt.»

Der Schneider, ein Händelsucher und Streithahn, senkte den Kopf und entschuldigte sich, denn er hatte seinen Meister gefunden.

«Mein lieber Herr Clopinet», sagte er, «ich verdanke Ihnen, dass ich noch zur Zierde des Erdkreises gehöre, ich bin Ihnen dankbar dafür und die Frauen werden Sie dafür segnen.»

«Da Ihr geistvoll seid und Euch so nett über Euch selbst lustig machen könnt, verzeihe ich Euch», antwortete Clopinet.

Aber der Schneider machte sich gar nicht lustig. Er hielt sich wirklich für sehr schön und versicherte ganz ernsthaft, dass die Schönen des Landes ihn liebenswürdig fanden und sich um sein Herz stritten. Da bekam Clopinet einen solchen Lachanfall, dass er auf den Rücken fiel, sich die Seiten hielt und mit den Füßen strampelte. Der Schneider hätte sich wohl sehr geärgert, wenn er sich getraut hätte, aber er traute sich nicht und fuhr in seiner Erzählung fort:

«Liebesabenteuer haben mich zugrunde gerichtet», sagte er. «Ihr mögt darüber lachen, aber es stimmt wirklich, ich bin einer Witwe zu Willen von zu Hause weggegangen, die mich heiraten wollte. Sie ließ mich glauben, dass sie reich sei, und ich wollte ihr meine Einwilligung geben, obwohl sie über ihre erste Jugend hinaus war, da entdeckte ich, dass sie keinen Pfennig besaß, nicht einmal meine jämmerliche Zeche im Wirtshaus konnte sie mir bezahlen! Ich habe sie also sitzen lassen, und kam auf diesem Weg hier zurück, tief bekümmert, mit leerem Beutel und leerem Bauch, ich musste mir vom Bäcker in Villers ein Stück Brot erbetteln. Da kam mir gestern Abend die Idee, die Reiherfedern, an die ich unentwegt denke, zu suchen. Der Bäcker sagte mir, dass Ihr sie für dreitausend Taler an den Herrn von Platecôte verkauft habt, der Euch als seinen Diener und Erben adoptiert hat. Das wenigstens erzählt man sich im Land. Da setzte ich mir in den Kopf, und wenn es mein Leben kosten sollte, die Focken zu finden, die man hier herumfliegen sieht und die man vor Tagesanbruch überraschen muss, wenn sie den Meeresrand verlassen. Ich ging um Mitternacht von Villers weg, um vor der Flut zu den Schwarzen Kühen zu gelangen. Aber entweder ging der Kuckuck des Bäckers nach, oder er hat mir ein wenig zu viel zu trinken gegeben, denn er ist ein geistvoller Mann, der gebildete Leute mag und der es nicht leid wurde, mich seinen Apfelwein kosten zu lassen, als wir den Abend über miteinander plauderten. Nun gut, war es der Kuckuck oder der Apfelwein oder der Teufel, der sich eingemischt hat, ich wurde noch vor Tagesanbruch von der Flut überrascht und auf diesen Felsen gebracht, wo ich ohne Euch gestorben wäre.»

«Das heißt», sagte Clopinet, «mit ein wenig kühlem Blut und Vernunft hättet Ihr ohne Gefahr bis zum Abfließen der Flut dort bleiben können. Aber nun seid Ihr ja mit heiler Haut davon gekommen, nehmt die zwei Münzen hier und geht in Frieden, ich habe genug von Eurer Begleitung.»

Der Schneider erschöpfte sich in Dankesbezeugungen; er hätte Clopinet die Hände geküsst, wenn der es zugelassen hätte. Das Meer war weit weg, der Esel war beruhigt und bereit, die für den Herrn Pfarrer bestimmte Menagerie nach Dives zu tragen. Clopinet hatte auch viele von den Pflanzen gesammelt, die sein Freund, der Apotheker, gerne haben wollte. Ein großes Bündel war auf den Hintern des Esels gebunden. Der Schneider war zwar verabschiedet, aber er ging nicht, mit begehrlicher Neugierde schaute er auf den Käfig und das Kräuterbündel.

«Ihr könnt Euch nützlich machen und etwas verdienen, wenn Ihr solche Pflanzen sammelt», sagte Clopinet. «Was die Vögel in den Dünen betrifft, egal welche, so verbiete ich Euch, Fallen zu stellen und sie beim Brüten zu stören.»

«Die Vögel am Ufer gehören aber jedermann», sagte hintertückisch der Schneider. «Hier in dem Käfig sind wundervolle Focken. Ihr habt sie genommen, sie gehören Euch. Aber es gibt noch andere, und wenn Ihr Mitleid mit einem armen Mann habt, so verratet ihm, wo sich diese Vögel tagsüber verstecken und wie man ohne Gefahr dahin kommen kann, denn schließlich habt Ihr gerade reiche Beute gemacht.»

«Herr Linkerhand», antwortete Clopinet, «Ihr wollt tun, was ich Euch verbiete, und Ihr fürchtet offenbar mein Missfallen nicht nach all dem, was ich für Euch getan habe. Na gut! hört, was Euch erwartet, wenn Ihr auf den Steilfelsen hinaufklettert!»

«Was denn? fragte der Schneider misstrauisch.»

«Hört Ihr nichts?»

«Ich höre, dass es Richtung Honfleur donnert.»

«Das ist kein Donner, das ist der Steilfels, der einstürzt, schnell weg mit uns!»

Er trieb den Esel zu schnellerem Gang an, der Schneider rannte voraus. Als er sich weit entfernt von der Gefahr sah, blieb er, erschreckt von einem gewaltigen Krach, stehen und als er sich umdrehte, sah er, wie eine ganze Felsklippe von diesem Berg herabstürzte mit riesigen Felsbrocken, die weit ins Meer hinaus geschleudert wurden; da gesellten sie sich als schreckliche Herde von weißen Kühen zu der düsteren Herde der schwarzen, ihren Vorgängern. Clopinet war auch stehengeblieben und schaute zurück. Er hatte gesehen, wie zusammen mit den Felsbrocken Teile des Gebälks seiner Einsiedelei und seines Ausgucks herabrollten.

«Herr Schneider», sagte er zu diesem, als er ihn eingeholt hatte, «ich hatte dort ein Landhaus, einen Garten und Focken so viel ich wollte ganz nah bei mir; nehmt es in Besitz, wenn Ihr wollt!»

Der erschrockene Schneider schüttelte den Kopf. Er war für immer geheilt von der Vorstellung, die Meeresvögel fangen und das Steilufer hinaufklettern zu wollen.

Clopinet ging traurig weiter. Er hatte diese Einsiedelei geliebt wie man einen Menschen liebt. Die Entbehrungen, die er erlitten, die Gefahren, die er gemeistert, die angenehmen oder die schrecklichen Träume, die er gehabt hatte, all das war für ihn wie eine Herzensbeziehung, die ein unausweichliches, lange vorhergesehenes Unglück für immer gebrochen hatte. Mutter Natur ist nicht immer eine gütige Gastgeberin, dachte er, sie hat strenge Gesetze, die man für Launen halten könnte, wenn man sie nicht versteht. Man muss sie trotzdem lieben, denn das, was sie einem an einer Stelle nimmt, gibt sie an einer anderen zurück, und ich werde bestimmt irgendwann einmal wieder einen Ort finden, an dem ich Seite an Seite mit ihr leben kann.

Clopinet verbrachte seinen letzten freien Tag wie ein Schulschwänzer am Strand, erst am Abend traf er in Dives ein, denn er wollte nicht, dass seine Vogelfracht gesehen wurde. Heimlich brachte er sie ins Pfarrhaus und bat den Pfarrer, dem Baron nicht zu sagen, woher dieser Reichtum komme. «Ich werde mich hüten!», rief der begeisterte Pfarrer aus. «Der hätte keine Ruhe, ehe er mir nicht diese zauberhaften lebendigen Tiere abgenommen hätte, um Mumien aus ihnen zu machen. Er wird sie nicht zu sehen bekommen, sei beruhigt!»

Clopinet überließ dem Pfarrer und seiner Haushälterin die Sorge, ihre neuen Gäste gut unterzubringen, er brachte seine Pflanzen zum Apotheker und dann endlich kehrte er traurig zum Schlafen in das Gutshaus Platecôte zurück.

XI

Am nächsten Morgen traf ihn der Baron an seinem Arbeitsplatz im Labor an. Clopinet sah gut aus und schien gesund zu sein. Aber nach zwei Tagen war das arme Kind so blass und bedrückt wie zuvor. Als sein Gönner ihn mit Fragen bestürmte, antwortete er: «Herr Baron, Sie müssen mich gehen lassen, ich kann hier nicht mehr leben. Ich hatte geglaubt, ein bisschen frische Luft und Spaziergänge würden genügen, um wieder gesund zu werden, aber ich habe mich getäuscht. Ich brauche mehr Zeit. Ich brauche ein Jahr, vielleicht noch mehr, ich weiß es nicht. Nehmt Eure Wohltaten zurück, ich bin ihrer nicht mehr würdig. Aber hasst mich nicht, ich würde vor Kummer sterben und hätte nichts von der Freiheit, die Ihr mir gegeben habt.»

Als der Baron sah, wie betrübt Clopinet war, verhielt er sich ganz wie ein Biedermann, tröstete ihn, so gut er konnte, schwor, dass er nie nachlassen werde, Anteil an ihm zu nehmen. Aber ehe er der Notwendigkeit nachgab, ihn für lange Zeit, vielleicht für immer, gehen zu lassen, denn auf Reisen drohen vielfältige Gefahren, verlangte er, dass er ihm sein Herz vollständig öffne. Er vermutete geheime Absichten und verstand Clopinets Liebe zur Natur einfach nicht.

«Also schön!», antwortete Clopinet, «ich werde Ihnen alles sagen, auf die Gefahr hin, dass Sie mich für dumm oder verrückt halten. Ich liebe die Vögel, wohlverstanden, die lebendigen Vögel, und ich muss bei ihnen leben. Ich sehe sie gerne auf Bildern, denn die Malerei gibt eine Vorstellung von Leben, und mir scheint, eines Tages werde ich in der Lage sein, in einer Zeichnung und mit Farben diese Wesen darzustellen, wenn ich sie lange Zeit betrachten und verstehen konnte. Aber das Ausstopfen ist mir nun verhasst. Mitten zwischen den Kadavern leben, das traurige tote Fleisch zerpflücken, einbalsamieren, das kann ich nicht mehr. Es kommt mir vor, als trinke ich den Giftbecher und werde selbst zur Mumie. Ihr bewundert die Haltung und das glänzende Aussehen, das ich den Vögeln verleihen kann. Für mich sind das Gespenster, die mich in meinen Träumen verfolgen und die ihr Leben zurückverlangen, das ich ihnen nicht mehr geben kann, und wenn ich den Abend auf dem verglasten Balkon verbringe, dann kommt es mir vor, als ob sie mit dem Schnabel an die Scheiben klopfen und die Freiheit ihrer Flügel wieder wollen, die ich mit meinen Eisen- und Messingdrähten zusammengebunden habe. Diese Geister erfüllen mich mit Grausen, und mir graut vor mir selbst, dass ich sie erschaffe. Zwar muss ich mir keine Vorwürfe über ihren Tod machen, denn ich habe nur einen einzigen Vogel getötet, einen einzigen, um ihn zu essen, getrieben vom Hunger. Das habe ich mir nie verziehen, und ich habe mir geschworen, nie einen zweiten zu töten. Aber es stimmt auch, dass ich vom Tod all derer, die ich präpariere, lebe, diese Vorstellung betrübt mich und macht mir ein schlechtes Gewissen. Und dann… und dann.. es gibt noch etwas, ich traue mich nicht, ich kann es Ihnen vielleicht gar nicht sagen.»

«Was gibt es noch?», fragte der Baron, «du musst mir alles sagen, wie deinem besten Freund.»

«Also gut!», sagte Clopinet. «Es gibt auf dem Meer und auf den Ufern Stimmen, die zu mir sprechen, kein Mensch außer mir kann sie hören. Man glaubt und sagt, dass Vögel Liebesrufe von sich geben, Angstrufe, Rufe von Wut oder Unruhe, die sich nie an Wesen einer anderen Art richten und die nicht für Menschen bestimmt sind. Das ist möglich. Aber da es welche gibt, die ich verstehe und die mir sagen, was ich tun soll, wenn ich vor meiner Pflicht zögere, so glaube ich, dass es um uns herum gute Geister gibt, die in unseren Augen verschiedenerlei Gestalt annehmen und verschiedenerlei Stimmen, um uns ihre Freundschaft zu bezeigen und uns zu leiten. Ich behaupte nicht, dass sie Wunder tun, aber sie lassen uns welche tun, indem sie durch ihren guten Einfluss unsere egoistischen Instinkte und unsere Nachlässigkeit in Mut und Aufopferung verwandeln. Das erstaunt Sie, mein lieber Herr, und doch habe ich Sie schon manchesmal in gewählter Sprache sagen hören, dass beim Studium der Wissenschaft die Natur in all ihren Stimmen zu uns spricht, dass sie uns auf diese Weise von Ehrgeiz und Eitelkeit löst, dass sie uns schließlich rein erhält und besser macht. Ich habe Ihre Worte aufgesogen, und diese Stimmen der Natur habe ich gehört. Ich habe mich an ihrem Zauber berauscht, ich kann nicht leben, ohne sie zu hören. Hier sprechen sie nicht zu mir: lassen Sie mich gehen. Die Stimmen werden mir sicherlich einmal befehlen, zu Ihnen zurückzukehren und Ihnen die Ergebnisse meiner Entdeckungen mitzuteilen, wie sie mir schon einmal befohlen haben, meinen Eltern zu gehorchen, und ich werde wieder kommen. Aber lassen Sie mich ihnen folgen, denn gerade jetzt rufen sie mich, sie wollen, dass ich ein echter Gelehrter werde, das heißt, ein echter Schüler der Natur.»

Der Baron hielt Clopinets Ansichten zwar zum Teil für richtig, glaubte aber, dass er eine krankhafte Phantasie habe und dass er sich durch Reisen zerstreuen solle. Er war ihm bei allen Vorbereitungen für eine Seereise behilflich, stattete ihn reichlich mit Geld, Wechseln und Werkzeugen aus, schiffte ihn auf einem der großen Schiffe ein, die zwei- oder dreimal im Jahr noch die Überfahrt von Dives nach Honfleur machen. Da schiffte sich Clopinet allein nach England ein, von wo aus er nach Schottland, Irland und die benachbarten Inseln fuhr. Nachdem er frei und glücklich in den wildesten Gegenden alles erforscht hatte, wobei er sich über alles selbst Rechenschaft ablegte, dachte er an die Rückkehr, nach einem Jahr war er wieder zurück, brachte dem Baron einen wahren Schatz an neuen Beobachtungen mit, die oft den Behauptungen der Naturwissenschaftler widersprachen, die aber nicht weniger wahr und sinnreich waren.

Nach einigen Wochen in seiner Familie und bei seinen Freunden ging Clopinet in die Schweiz, nach Deutschland und bis in die polnischen, russischen und türkischen Provinzen. Später besuchte er den Norden Russlands und einen Teil Asiens, kaufte überall die Vögel, die die Bewohner dieser Länder jagten und töteten, mumifizierte sie und schickte sie dem Baron, dadurch wurde seine Sammlung eine der schönsten in Frankreich. Aber Clopinet hielt sich an sein Versprechen, nichts zu töten und nichts in seinem Auftrag töten zu lassen. Das war seine unüberwindliche Überzeugung; vielleicht ging die Wissenschaft dadurch einiger wertvoller Proben verlustig, die er mit weniger Skrupeln hätte erwerben können. Im Gegenzug dazu gewann er so viele richtige und neue Dokumente dazu, die seit langem herrschende Irrtümer richtig stellten, dass der Baron keinen Grund zur Klage hatte. Lange Zeit rechnete er sich all die Entdeckungen seines Schülers zum Ruhme an, veröffentlichte seine Notizen als wissenschaftliche Werke, in denen der vergaß, ihn zu erwähnen. Clopinet war das egal, er hatte keinerlei persönlichen Ehrgeiz, er war vollkommen damit zufrieden, seine Leidenschaft für die Natur befriedigen zu können. Der Baron hatte nun einen gewissen Ruf erworben, was das Ziel aller seiner Ausgaben und Befehle gewesen war, er war aber trotzdem nicht undankbar Clopinet gegenüber: als er starb, setzte er ihn zu seinem Universalerben ein. Seine Neffen strebten einen großen Prozess gegen das elende Schulmeisterlein an, das sich ihrer Meinung nach die Gunst des Verstorbenen erschlichen hatte, aber das Testament war untadelig und Clopinet hätte vielleicht gewonnen. Aber er mochte keinen Ärger und war mit dem ersten Vergleich einverstanden. Man ließ ihm das Gutshaus und das Museum mit genügend Land, so dass er genug zum Leben hatte und auf Reisen gehen konnte, wenn er sparsam war.

Er hielt sich vom Glück und Schicksal für bevorzugt. Er konnte eine Weltreise machen, seine Familie und die Familie von Onkel Laquille wohnten derweilen im Schloss, in das er von Zeit zu Zeit zurückkehrte, um mit ehrfürchtiger Sorgfalt die Sammlung seines Wohltäters zu pflegen. In dieser ständigen Abwechslung wurde er alt, manchmal war er jahrelang verschwunden und gab keine Nachricht von sich, denn er hielt sich lange in so wilden Gegenden auf, in denen keine Korrespondenz möglich war. Immer kam er freundlich, ruhig, gut auskömmlich zurück, über seine Mittel hinaus zuvorkommend und großzügig. Die Naturwissenschaftler, die er auf seinen fernen Exkursionen kennen gelernt hatte, darunter Herr Levaillant[5], berichteten von ihm als einem Menschen von großer Güte und außergewöhnlichem Mut. Da er selber nie davon sprach, wusste man nicht so recht, ob sich das alles wirklich zugetragen hatte.

Lange lebte er ohne Gebrechen, aber auf Grund der übermäßigen Strapazen und der Kälte, die er erlitt, als er in Lappland das Verhalten der Eidergänse erforschte, hinkte er wieder wie in seiner Kindheit. Er war an große Anstrengung gewöhnt, als er sie nun nicht mehr auf sich nehmen konnte, dachte er, dass er nicht mehr viele Jahre zu leben habe und schickte an verschiedene Museen die Vögel seiner Sammlung mit einer großen Zahl von anonymen Bemerkungen, die die Gelehrten sehr schätzten, ohne zu wissen, von wem sie waren.

So sehr sich die meisten anderen gerne produzieren und von sich reden machen wollen, so sehr liebte es Clopinet, sich zu verstecken. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass die Menschen seiner Heimat ihn liebten und achteten, die ihn Herr Baron nannten, und die sich ins Meer geworfen hätten, wenn ihm das gefallen hätte. Er war folglich sehr glücklich, verbrachte seine verbleibende Zeit mit wunderbaren Zeichnungen, die nach seinem Tod teuer verkauft wurden und sehr beliebt waren. Als er sich, schwach und wie vorgewarnt, seinem Ende nahe fühlte, wollte er den großen Steilfelsen noch einmal sehen. Er war nicht sehr alt, und seine Familie war nicht sonderlich in Sorge um ihn. Seine treuen Freunde, der Apotheker und der Pfarrer, waren viel älter als er, aber sie waren noch rüstig, und boten ihm an, ihn zu begleiten. Er bedankte sich, bat sie aber, ihn allein zu lassen. Er versprach, auf dem Strand nicht weit zu gehen. Sie kannten seinen Hang zur Einsamkeit und wollten ihn nicht stören.

Als er am Abend nicht heimkam, waren seine Brüder, Neffen und Freunde beunruhigt. Mit Fackeln zogen sie los, Pfarrer und Apotheker folgten Franz, so gut sie konnten. Sie suchten die ganze Nacht, den ganzen nächsten Tag wurde die Küste abgesucht und an allen folgenden Tagen zog man Erkundigungen ein. Die Dünen waren stumm, das Meer warf keinen Leichnam an Land. Eine alte Frau, die im Morgengrauen Krabben auf dem Strand gefischt hatte, versicherte, sie habe einen großen Meeresvogel gesehen, wie sie noch nie einen ähnlichen gesehen hatte, und dieser merkwürdige Vogel hatte ihr dicht über ihrer Haube mit der Stimme der Herrn Baron zugerufen: – Adieu, gute Leute! sorgt Euch nicht um mich, ich habe meine Flügel wieder gefunden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Illustrationen: (Internet)

Nachtreiher: Sebastian Münter, 2009. naturfotografen-forum.de (Vogelbild des Monats Juni 2009)

 

Falaises des Vaches Noires, Vaches Noires:

soenke.piranho.de/Fundorte/villers.htm

 

Ginster: nabu-zoeschingen.de.jpg

Natternkopf: 250px-Illustration_Echium_vulgare0.jpg

Strandtausengüldenkraut: britt-0199.jpg; b.jpg

Strandnelke (Widerstoß): b-1.jpg

Winde: binwes41-I.jpg

 

Rotflügelbrachschwalbe: Foto-Nr. 11779b © Alex Auer

 

 

 

aus: George Sand, Contes d’une Grand-mère, Les editions de l’Aurore, 1983, Première série (geschrieben 1872).

 

[1] Wie lange ist es jetzt her?

[2] französisch: dix-huit…achtzehn; Erklärung auf Seite 54

[3] Buffon, L’Histoire naturelle générale et particulière (1750-1768) et L’Histoire naturelle des oiseaux (1771-1786). Beide Bände standen in George Sands Bibliothek.

[4] siehe Fußnote 2

[5] François Levaillant (1753-1824), Reisender und Naturwissenschaftler.