Corinna Bille und Maurice Chappaz in dunklen Wäldern
Corinna Bille, Dunkle Wälder | Maurice Chappaz, Die Tabakspfeife… |
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Nun erblickte man die Ländereien; sie hatte sie erst ein einziges Mal gesehen – in einer Herbst-Mandorla, und das hatte ihr genügt: sie liebte sie. | Wie man eine Uhr aufzieht, so gehe ich jedes Jahr wieder nach Les Vernys, auf diese unzugängliche Insel |
Blanca stand auf der Schwelle der riesigen vom Wald wie von Ringmauern umgebenen Lichtung und fühlte das irrsinnige Glücksgefühl, das sie in ihrer Jugend verspürt hatte. Landschaften verbrauchen sich wie Menschen, hier waren sie neu. | Der Abend legt sich auf das Espenwäldchen, die grünen Blätter wispern, manche sind schon gelb und verloren und wirbeln unter unseren Fenstern. Weiter oben tanzen die Lärchenwipfel, man erahnt den Abhang, auf dem sich dicke Erlenunterröcke drehen.
Der Wald wallt. Unser Chalet harrt. |
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Als sie die Baustelle des Chalets zum ersten Mal gesehen hatte, war das Holz von einem Rosa, kaum blasser als die Lamellen des Wiesenchampignons, und nun war es schon bernsteinfarben, es würde noch braun werden und schließlich schwarz. | Heute… heute und wieder heute: meine Beschäftigung vom Morgen bis zum Abend – ich begehe von oben bis unten mein Reich von Les Vernys, es beginnt an der Großen Wasserleite, fünfzig Meter oberhalb des Chalets, und fällt von da aus ab, hundertfünfzig Meter, alle seine Wiesen werden von Nadelbäumen verschlungen, und unten saugt alles ein Abgrund auf.
Wenn man auf dem Bauch unter einen Felsen kriecht, kann man da mit dem Finger den Buchstaben auf dem Grenzstein entziffern. |
Der Weg führte immer weiter schräg bergab, da sah sie das Hüttchen, eine Idee ihres Mann. | Wir gehen die lange Wiese hinunter, die so steil ist, dass es sie schier unter unseren Füßen wegzieht. |
Blanca blieb allein zurück. Sie kam sich schmutzig vor. Ihre Kleider störten sie. Sie trug die Wassereimer ins Badezimmer und wusch sich, dann verhüllte sie die Balkonbrüstung mit einer großen Lederdecke und streckte sich in der Sonne aus. | Ich habe sogar eine lange hohe Steinmauer bauen müssen, um das Chalet zu stützen. |
Ein rosa Ast, der größte einer Kiefer, machte sie stutzig. Zuerst dachte sie an eine Schaukel, aber wer sollte es wagen, über diesem Abgrund zu schaukeln?… Dann an einen Erhängten. Was würde sie tun, wenn sie dort plötzlich wirklich einen Erhängten entdeckte?
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Wir haben noch einmal versucht, Himbeeren an der Wasserleite entlang zu pflücken und mehrere Stunden in abschüssigen Schluchten zugebracht.
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Nun betrachtete sie das Gebirge auf der anderen Talseite und den Abhang (…). Dahinter war die Lichtung einer Almweide, die ihr jetzt mit ihren zwei oder drei Hirtenhäuschen sehr nahe erschien. | |
“Ich betrete meinen Wald…“ Es war wirklich das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so etwas erlebte. Sie hatte Gärten und sogar Bäume und Hecken besessen, aber einen echten Wald? Nie. Andächtig ging sie in diesem Schatten weiter. | Val de Réchy |
Der Weg ging nun unter der Grenzbarriere weiter. Sie kroch darunter durch und war auf der Wiese vor dem Chalet angelangt.
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Spaziergang zu der anderen Lichtung, die langsam verwildert, aber noch muht im hinteren Teil des Waldes. Mehrere Chalets warten auf den Wiesen wie Boote darauf, über den Styx zu setzen. Manche sind schon am anderen Ufer mit zerfledderten, halb eingebrochenen Schindeldächern…
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Nun stiegen sie nicht mehr bergab, sondern gingen auf einem ebenen Weg einen Graben entlang.
– Solche Wege!… rief Blanca bewundernd aus; das Laufen tat ihr immer noch weh. – Wieviel totes Holz hier liegt! Was für eine Gefahr für den Wald… bemerkte Clemens. – Oh! Ich liebe solche Wege, wiederholte sie und betrachtete die abgestorbenen Bäume… |
Die Sapine ist ein Tannenwald, der aufrecht abrutscht, der, Wurzeln und Quellen wild durcheinander, wie ein Floß einem Abgrund zutreibt. |
Oje! Das hätte schief gehen können! Was für ein Sturz!
Clemens war auf dem Weg weitergegangen und hatte nachgeschaut, was unter den Felsen war. – Nein, du hättest keinen Halt mehr gefunden, dort geht es senkrecht hinab. Eine Steilwand bis ganz unten im Tal. |
Das Drama, das hier nicht stattgefunden hat, darauf will ich antworten, indem ich es erzähle, denn nichts ist vergebens. |
Endlich kam die Wasserleite, halb von großen Alpendostblättern verborgen; sie war ziemlich breit, ein Wasserlauf schlängelte sich darin. Clemens rüttelte am Gatter eines Reservoirs aus Zement.
– Zugedreht, natürlich.
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Um des lieben Friedens willen hatte Clemens ein schmales Band von seinem Land hergegeben zusammen mit der größten Kiefer in der ganzen Gegend, der Dreimannskiefer, aber mit dem Verbot, sie zu fällen.
Am Eingang zu den Ländereien hatten Kinder auf ein Kreuz mit einem Dächlein Blumen gelegt: Dachwurz, die noch an einem Stein klebte, auf die Kreuzarme, einen Margeritenstrauß in einer Konservendose unten an den Fuß.
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– Ich, unterbrach ihn Guérin, ich hol morgen das Heu rein, und danach verschwind ich.
Er zeigte auf das Tal über dem Wasserfall. – Da hinauf! – Es soll riesig sein da oben, gewaltig, hab ich gehört, flüsterte Blanca.
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Man betrachte all die Gegenstände und Werke, die von den
schwieligen, roten, braunen Händen der Urbewohner stammen, von all denen, die ihre Dörfer in den Jahreszeiten bearbeitet haben, all das ist schön, von geschaffener und nicht geschaffener Schönheit (Kunst wird da verdächtig); und hier, die Gegenstände des Alltags: der Griff eines Rechens mit der Patina von menschlichen Händen, ein Tisch, eine Tür, ein Schloss, eine Sense, bei der man noch Schwung und Hieb der gebogenen Klinge spürt und führt. |
Manche Bauern auf den Ländereien waren weggegangen, andere kamen an und wohnten in den kleinen Maiensäßen am Rand der Domäne, sogar in dem ganz unten, das ein wenig verwahrlost war. | |
Die Wasserleite mit ihren kleinen Wellen floss zu ihrer Linken, Purpurenzian und große Pestwurzblätter wuchsen an ihrem Rand. | Ich mache mich von Les Vernys aus auf in ein Dorf, das sich auf der anderen Seite der Rhone abzeichnet.
Lens kommt näher wie eine Straße im Himmel. Fast pralle ich gegen die Kirche, die wie ein Schiff dasteht. |
Das Hüttchen wurde das Haus der Mädchen. Blanca gab ihnen geblümten Stoff, daraus machten sie eine Tischdecke und ein langes Kissen für die Bank. | Ich habe eine Eintrittskarte für das Glockenspielfest erhalten, das Henri leitet, der Meister aller meiner Bücher hier. Die Glocke, auf der er spielen wird, grüßt die Herrin eines Schlosses, das kratzt der Schatten weg, das wischen die Flechten weg, das reitet auf einem Hügel mit Weinbergen. Sie läutet das Losungswort: “Ich heiße die Fröhliche Barbara und verkünde den Namen des Herrn.“ |
[beim Nachbarn] |
Corinna Bille, Dunkle Wälder | Maurice Chappaz, Die Tabakspfeife… |
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Nun erblickte man die Ländereien; sie hatte sie erst ein einziges Mal gesehen – in einer Herbst-Mandorla, und das hatte ihr genügt: sie liebte sie. | Wie man eine Uhr aufzieht, so gehe ich jedes Jahr wieder nach Les Vernys, auf diese unzugängliche Insel |
Blanca stand auf der Schwelle der riesigen vom Wald wie von Ringmauern umgebenen Lichtung und fühlte das irrsinnige Glücksgefühl, das sie in ihrer Jugend verspürt hatte. Landschaften verbrauchen sich wie Menschen, hier waren sie neu. | Der Abend legt sich auf das Espenwäldchen, die grünen Blätter wispern, manche sind schon gelb und verloren und wirbeln unter unseren Fenstern. Weiter oben tanzen die Lärchenwipfel, man erahnt den Abhang, auf dem sich dicke Erlenunterröcke drehen.
Der Wald wallt. Unser Chalet harrt. |
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Als sie die Baustelle des Chalets zum ersten Mal gesehen hatte, war das Holz von einem Rosa, kaum blasser als die Lamellen des Wiesenchampignons, und nun war es schon bernsteinfarben, es würde noch braun werden und schließlich schwarz. | Heute… heute und wieder heute: meine Beschäftigung vom Morgen bis zum Abend – ich begehe von oben bis unten mein Reich von Les Vernys, es beginnt an der Großen Wasserleite, fünfzig Meter oberhalb des Chalets, und fällt von da aus ab, hundertfünfzig Meter, alle seine Wiesen werden von Nadelbäumen verschlungen, und unten saugt alles ein Abgrund auf.
Wenn man auf dem Bauch unter einen Felsen kriecht, kann man da mit dem Finger den Buchstaben auf dem Grenzstein entziffern. |
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Der Weg führte immer weiter schräg bergab, da sah sie das Hüttchen, eine Idee ihres Mann. | Wir gehen die lange Wiese hinunter, die so steil ist, dass es sie schier unter unseren Füßen wegzieht. |
Blanca blieb allein zurück. Sie kam sich schmutzig vor. Ihre Kleider störten sie. Sie trug die Wassereimer ins Badezimmer und wusch sich, dann verhüllte sie die Balkonbrüstung mit einer großen Lederdecke und streckte sich in der Sonne aus. | Ich habe sogar eine lange hohe Steinmauer bauen müssen, um das Chalet zu stützen. |
Ein rosa Ast, der größte einer Kiefer, machte sie stutzig. Zuerst dachte sie an eine Schaukel, aber wer sollte es wagen, über diesem Abgrund zu schaukeln?… Dann an einen Erhängten. Was würde sie tun, wenn sie dort plötzlich wirklich einen Erhängten entdeckte?
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Wir haben noch einmal versucht, Himbeeren an der Wasserleite entlang zu pflücken und mehrere Stunden in abschüssigen Schluchten zugebracht.
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Nun betrachtete sie das Gebirge auf der anderen Talseite und den Abhang (…). Dahinter war die Lichtung einer Almweide, die ihr jetzt mit ihren zwei oder drei Hirtenhäuschen sehr nahe erschien. | |
“Ich betrete meinen Wald…“ Es war wirklich das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so etwas erlebte. Sie hatte Gärten und sogar Bäume und Hecken besessen, aber einen echten Wald? Nie. Andächtig ging sie in diesem Schatten weiter. | Val de Réchy |
Der Weg ging nun unter der Grenzbarriere weiter. Sie kroch darunter durch und war auf der Wiese vor dem Chalet angelangt.
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Spaziergang zu der anderen Lichtung, die langsam verwildert, aber noch muht im hinteren Teil des Waldes. Mehrere Chalets warten auf den Wiesen wie Boote darauf, über den Styx zu setzen. Manche sind schon am anderen Ufer mit zerfledderten, halb eingebrochenen Schindeldächern…
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Nun stiegen sie nicht mehr bergab, sondern gingen auf einem ebenen Weg einen Graben entlang.
– Solche Wege!… rief Blanca bewundernd aus; das Laufen tat ihr immer noch weh. – Wieviel totes Holz hier liegt! Was für eine Gefahr für den Wald… bemerkte Clemens. – Oh! Ich liebe solche Wege, wiederholte sie und betrachtete die abgestorbenen Bäume… |
Die Sapine ist ein Tannenwald, der aufrecht abrutscht, der, Wurzeln und Quellen wild durcheinander, wie ein Floß einem Abgrund zutreibt. |
Oje! Das hätte schief gehen können! Was für ein Sturz!
Clemens war auf dem Weg weitergegangen und hatte nachgeschaut, was unter den Felsen war. – Nein, du hättest keinen Halt mehr gefunden, dort geht es senkrecht hinab. Eine Steilwand bis ganz unten im Tal. |
Das Drama, das hier nicht stattgefunden hat, darauf will ich antworten, indem ich es erzähle, denn nichts ist vergebens. |
Endlich kam die Wasserleite, halb von großen Alpendostblättern verborgen; sie war ziemlich breit, ein Wasserlauf schlängelte sich darin. Clemens rüttelte am Gatter eines Reservoirs aus Zement.
– Zugedreht, natürlich.
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Um des lieben Friedens willen hatte Clemens ein schmales Band von seinem Land hergegeben zusammen mit der größten Kiefer in der ganzen Gegend, der Dreimannskiefer, aber mit dem Verbot, sie zu fällen.
Am Eingang zu den Ländereien hatten Kinder auf ein Kreuz mit einem Dächlein Blumen gelegt: Dachwurz, die noch an einem Stein klebte, auf die Kreuzarme, einen Margeritenstrauß in einer Konservendose unten an den Fuß.
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– Ich, unterbrach ihn Guérin, ich hol morgen das Heu rein, und danach verschwind ich.
Er zeigte auf das Tal über dem Wasserfall. – Da hinauf! – Es soll riesig sein da oben, gewaltig, hab ich gehört, flüsterte Blanca.
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Man betrachte all die Gegenstände und Werke, die von den
schwieligen, roten, braunen Händen der Urbewohner stammen, von all denen, die ihre Dörfer in den Jahreszeiten bearbeitet haben, all das ist schön, von geschaffener und nicht geschaffener Schönheit (Kunst wird da verdächtig); und hier, die Gegenstände des Alltags: der Griff eines Rechens mit der Patina von menschlichen Händen, ein Tisch, eine Tür, ein Schloss, eine Sense, bei der man noch Schwung und Hieb der gebogenen Klinge spürt und führt. |
Manche Bauern auf den Ländereien waren weggegangen, andere kamen an und wohnten in den kleinen Maiensäßen am Rand der Domäne, sogar in dem ganz unten, das ein wenig verwahrlost war. | |
Die Wasserleite mit ihren kleinen Wellen floss zu ihrer Linken, Purpurenzian und große Pestwurzblätter wuchsen an ihrem Rand. | Ich mache mich von Les Vernys aus auf in ein Dorf, das sich auf der anderen Seite der Rhone abzeichnet.
Lens kommt näher wie eine Straße im Himmel. Fast pralle ich gegen die Kirche, die wie ein Schiff dasteht. |
Das Hüttchen wurde das Haus der Mädchen. Blanca gab ihnen geblümten Stoff, daraus machten sie eine Tischdecke und ein langes Kissen für die Bank. | Ich habe eine Eintrittskarte für das Glockenspielfest erhalten, das Henri leitet, der Meister aller meiner Bücher hier. Die Glocke, auf der er spielen wird, grüßt die Herrin eines Schlosses, das kratzt der Schatten weg, das wischen die Flechten weg, das reitet auf einem Hügel mit Weinbergen. Sie läutet das Losungswort: “Ich heiße die Fröhliche Barbara und verkünde den Namen des Herrn.“ |
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